Herr der Fliegen

Der blondhaarige Junge glitt das letzte Stück Felsen hinab und begann, sich zur Lagune durchzuarbeiten. Er hatte sein Schultrikot ausgezogen und schleifte es mit der Hand nach.
Die Rahmenhandlung ist bekannt aus diversen Filmen und Serien wie „Lost“: Eine Gruppe englischer Schuljungen landet bei einem Flugzeugabsturz auf einer paradiesischen Südseeinsel und muss dort einige Zeit ausharren, bis sie gerettet wird. Doch ist dieses Buch ganz anders als die filmische Umsetzung der Abenteuergeschichten, auch wenn die Charaktere in „Lost“ gelegentlich an Jack und Ralph aus „Herr der Fliegen“ denken lassen. Das Buch hebt sich aber schon deshalb hervor, weil Kinder die handelnden Charaktere sind, die, verlassen von den „großen Menschen“, ihre eigene Ordnung nach bestem Wissen und Gewissen aufbauen. Sie wählen einen aus ihrer Mitte zum Anführer, dessen Autorität auf Sympathie und Initiative beruht. Ralph, der als erster das Muschelhorn, eine große zerbrechliche Muschel, auf der man weitklingende Töne erzeugen kann, findet, bläst hinein und die verstreute Bande findet sich das erste Mal zu einer Versammlung zusammen. Seitdem ist das Muschelhorn ein Symbol für Ordnung und Macht, das demjenigen Gehör verleiht, der die Muschel in der Hand hält.
Nach einiger Zeit auf der Insel jedoch stellt sich heraus, dass die Jungen in ihrer Zivilisiertheit und Organisiertheit nachlässig werden und auch Ralph durch mahnende Reden nichts mehr erreichen kann.
Er wartete, bis es ganz still war auf der Plattform.
„Alles löst sich auf. Ich weiß nicht weshalb. Zuerst ist alles so fein gewesen, alles ging prima. Und dann –„
Er schwenkte langsam das Muschelhorn, starrte über die Versammlung hinweg ins Leere und dachte an das wilde Tier, an die Schlange, das Feuer, das Gerede vom Angsthaben.
„Dann kriegen welche auf einmal Angst.“
Als einige Jungen das Signalfeuer ausgehen lassen, das ein vorbeifahrendes Schiff auf sie aufmerksam hätte machen sollen, geraten Ralph und der aufmüpfige Jack aneinander und die Gruppe zerbricht in zwei Lager. Unter Jack versammeln sich all jene, die die Abwesenheit von Erwachsenen und somit die Freiheit zu Gewalt und Instinktverfolgung befürworten. Sie beschmieren sich ihre Gesichter mit Farben und pflegen ihre Wildheit durch Jagdtänze und Schweineschlachtung. Ein aufgespießter Wildscheinkopf, von Fliegen umschwirrt, wird zum „Altar des Bösen“, auf dem die Jungen Vernunft und jegliche Sitte opfern.
„Schweinskopf auf einem Stock!“
„Und stell dir vor, da habt ihr gedacht, das Tier sei etwas, das man jagen und töten kann!“ sagte der Kopf. Ein, zwei Augenblicke lang hallte der Wald und die ganze, nur trübe geschaute Umgebung wieder von höhnischem Gelächter. Du hast´s gewusst, wie? Daß ich ein Teil von euch bin, von ganz innen, innen, innen? Daß ich schuld daran bin, daß nichts klappt? Daß alles so gekommen ist, wie´s gekommen ist?“
Die Wildheit der Abtrünnigen übt auch eine gewisse Anziehungskraft auf die Gruppe um Ralph und den vernünftigen Piggy aus, doch als die Jungen bei einem wilden Ritualtanz der Blutrausch überkommt und sie in ihrem Wahn einen ihrer Kameraden töten, schrecken Ralph und seine Freunde zurück und bilden eine verhängnisvolle Opposition zu Jack und seinem Gefolge. Nachdem auch noch das symbolträchtige und machtbezeugende Muschelhorn zerbricht, beginnt eine lebensbedrohliche Verfolgungsjagd über die ganze Insel.
Konnte man nicht einfach geradewegs auf die Festung zuschreiten, ans Mal anschlagen und rufen „Frei! Gilt nicht!“, lustig auflachen und bei den anderen schlafen? So tun, als seien sie noch Jungen, Schuljungen, die „Ja, Herr Lehrer“, „Danke, Herr Lehrer“ gesagt und Mützen getragen hatten? Das Tageslicht hätte vielleicht ja gesagt; aber die Finsternis und das Todesgrauen sagten sein.
Diese Geschichte über ein paar kleine Jungs auf einer Insel steht wie ein Mahnmal für kulturelle und politische Stabilität, die durch Angst vor äußeren Gefahren und durch Machthunger Einzelner bedroht wird. William Golding schrieb dieses Buch 1954 - als Antwort auf das erschreckendste Beispiel an Kontrollverlust und Blutrausch, das die Welt bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte, und angesichts eines erneut drohenden Krieges zwischen den Sowjetmächten und der amerikanischen Einheit.

Die Geschichte übt, angesichts der Rohheit und Gewalt menschlicher Instinkte, die jegliche Kinderfreude und Knabenhaftigkeit auslöscht, eine ungemütliche Faszination aus und lässt einen zusammenzucken. Unvermutet wird man mit der triebhaften Mordlust kleiner Menschen konfrontiert, die in ihrer einfachen Grausamkeit fast natürlich erscheint und einem Gänsehaut bereiten kann. Wenn man einen Einblick in die Abgründe der menschlichen Natur bekommen will, ist dieses Buch unbedingt empfehlenswert.

Rezension von Ulrike König

Herr der Fliegen

288 Seiten, € 11,00, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3596804221
aus dem Englischen von Peter Torberg

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Herr der Fliegen

Der blondhaarige Junge glitt das letzte Stück Felsen hinab und begann, sich zur Lagune durchzuarbeiten. Er hatte sein Schultrikot ausgezogen und schleifte es mit der Hand nach.
Die Rahmenhandlung ist bekannt aus diversen Filmen und Serien wie „Lost“: Eine Gruppe englischer Schuljungen landet bei einem Flugzeugabsturz auf einer paradiesischen Südseeinsel und muss dort einige Zeit ausharren, bis sie gerettet wird. Doch ist dieses Buch ganz anders als die filmische Umsetzung der Abenteuergeschichten, auch wenn die Charaktere in „Lost“ gelegentlich an Jack und Ralph aus „Herr der Fliegen“ denken lassen. Das Buch hebt sich aber schon deshalb hervor, weil Kinder die handelnden Charaktere sind, die, verlassen von den „großen Menschen“, ihre eigene Ordnung nach bestem Wissen und Gewissen aufbauen. Sie wählen einen aus ihrer Mitte zum Anführer, dessen Autorität auf Sympathie und Initiative beruht. Ralph, der als erster das Muschelhorn, eine große zerbrechliche Muschel, auf der man weitklingende Töne erzeugen kann, findet, bläst hinein und die verstreute Bande findet sich das erste Mal zu einer Versammlung zusammen. Seitdem ist das Muschelhorn ein Symbol für Ordnung und Macht, das demjenigen Gehör verleiht, der die Muschel in der Hand hält.
Nach einiger Zeit auf der Insel jedoch stellt sich heraus, dass die Jungen in ihrer Zivilisiertheit und Organisiertheit nachlässig werden und auch Ralph durch mahnende Reden nichts mehr erreichen kann.
Er wartete, bis es ganz still war auf der Plattform.
„Alles löst sich auf. Ich weiß nicht weshalb. Zuerst ist alles so fein gewesen, alles ging prima. Und dann –„
Er schwenkte langsam das Muschelhorn, starrte über die Versammlung hinweg ins Leere und dachte an das wilde Tier, an die Schlange, das Feuer, das Gerede vom Angsthaben.
„Dann kriegen welche auf einmal Angst.“
Als einige Jungen das Signalfeuer ausgehen lassen, das ein vorbeifahrendes Schiff auf sie aufmerksam hätte machen sollen, geraten Ralph und der aufmüpfige Jack aneinander und die Gruppe zerbricht in zwei Lager. Unter Jack versammeln sich all jene, die die Abwesenheit von Erwachsenen und somit die Freiheit zu Gewalt und Instinktverfolgung befürworten. Sie beschmieren sich ihre Gesichter mit Farben und pflegen ihre Wildheit durch Jagdtänze und Schweineschlachtung. Ein aufgespießter Wildscheinkopf, von Fliegen umschwirrt, wird zum „Altar des Bösen“, auf dem die Jungen Vernunft und jegliche Sitte opfern.
„Schweinskopf auf einem Stock!“
„Und stell dir vor, da habt ihr gedacht, das Tier sei etwas, das man jagen und töten kann!“ sagte der Kopf. Ein, zwei Augenblicke lang hallte der Wald und die ganze, nur trübe geschaute Umgebung wieder von höhnischem Gelächter. Du hast´s gewusst, wie? Daß ich ein Teil von euch bin, von ganz innen, innen, innen? Daß ich schuld daran bin, daß nichts klappt? Daß alles so gekommen ist, wie´s gekommen ist?“
Die Wildheit der Abtrünnigen übt auch eine gewisse Anziehungskraft auf die Gruppe um Ralph und den vernünftigen Piggy aus, doch als die Jungen bei einem wilden Ritualtanz der Blutrausch überkommt und sie in ihrem Wahn einen ihrer Kameraden töten, schrecken Ralph und seine Freunde zurück und bilden eine verhängnisvolle Opposition zu Jack und seinem Gefolge. Nachdem auch noch das symbolträchtige und machtbezeugende Muschelhorn zerbricht, beginnt eine lebensbedrohliche Verfolgungsjagd über die ganze Insel.
Konnte man nicht einfach geradewegs auf die Festung zuschreiten, ans Mal anschlagen und rufen „Frei! Gilt nicht!“, lustig auflachen und bei den anderen schlafen? So tun, als seien sie noch Jungen, Schuljungen, die „Ja, Herr Lehrer“, „Danke, Herr Lehrer“ gesagt und Mützen getragen hatten? Das Tageslicht hätte vielleicht ja gesagt; aber die Finsternis und das Todesgrauen sagten sein.
Diese Geschichte über ein paar kleine Jungs auf einer Insel steht wie ein Mahnmal für kulturelle und politische Stabilität, die durch Angst vor äußeren Gefahren und durch Machthunger Einzelner bedroht wird. William Golding schrieb dieses Buch 1954 - als Antwort auf das erschreckendste Beispiel an Kontrollverlust und Blutrausch, das die Welt bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte, und angesichts eines erneut drohenden Krieges zwischen den Sowjetmächten und der amerikanischen Einheit.

Die Geschichte übt, angesichts der Rohheit und Gewalt menschlicher Instinkte, die jegliche Kinderfreude und Knabenhaftigkeit auslöscht, eine ungemütliche Faszination aus und lässt einen zusammenzucken. Unvermutet wird man mit der triebhaften Mordlust kleiner Menschen konfrontiert, die in ihrer einfachen Grausamkeit fast natürlich erscheint und einem Gänsehaut bereiten kann. Wenn man einen Einblick in die Abgründe der menschlichen Natur bekommen will, ist dieses Buch unbedingt empfehlenswert.

Rezension von Ulrike König

Herr der Fliegen

288 Seiten, € 11,00, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3596804221
aus dem Englischen von Peter Torberg

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Rezensiert von Gast