Die Wand

Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der fünfte November ist. Im Lauf des vergangenen Winters sind mir einige Tage abhanden gekommen.
So beginnt die namenlose Ich-Erzählerin ihren Bericht, in dem sie ihre letzten Jahre rekapituliert. Wie ist es dazu gekommen, dass ihr Tage abhandengekommen sind? Ist das genaue Datum nicht auf jedem Handy abzulesen, zeigt unser Computer nicht immer das Datum in einer Ecke an? Nicht für die Erzählerin, weil der Roman bereits 1963 erschien. Doch fällt es nicht wirklich auf, dass wir uns in den 60er Jahren befinden, die fantastische Geschichte könnte genauso gut heute spielen.

Die Ich-Erzählerin fährt mit ihrer Kusine und ihrem Mann in die Berge, um dort das Wochenende in einer Jagdhütte zu verbringen. Dort angekommen, fährt das Ehepaar noch einmal ins nahegelegene Dorf, kommt aber nicht zurück. Am nächsten Morgen stellt die Ich-Erzählerin fest, dass eine unsichtbare Wand ihr den Weg zum Dorf versperrt und sie wie in einer großen Blase gefangen ist. Diese Wand ist zweischneidig: zum einen hält sie die Frau gefangen, zum anderen aber beschützt sie sie, weil hinter der Wand alle Menschen und auch die Tiere gestorben sind. Woher kommt diese aus dem Nichts auftauchende Wand? Die Frau im Roman macht den drohenden Krieg dafür verantwortlich.
Über die Wand zerbrach ich mir nicht allzusehr den Kopf. Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheimzuhalten einer der Großmächte gelungen war; eine ideale Waffe, sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur Menschen und Tiere.
Ist sie aber menschengemacht? Ist sie überhaupt real? Das ist nicht ganz eindeutig zu beantworten, auch wenn die Frau es so empfindet und beschreibt. Es könnte auch eine innere Wand sein, eine Wand, die die Frau aus sich heraus projiziert, eine imaginierte Wand also. Die Wand ist jedenfalls ein zentrales Motiv in diesem Roman, doch beschäftigt sich die Frau nicht wirklich ausgiebig mit ihr, sondern akzeptiert sie so, wie sie ist.

Stattdessen hat sie ganz andere Probleme, denn sie ist völlig auf sich allein gestellt und muss sich ihre tägliche Nahrung dementsprechend selbst produzieren. Da hat sie Glück, dass sie tierische Begleiter hat: Eine Kuh, einen Hund, eine Katze. Ihnen gegenüber fühlt sie sich verantwortlich, sie arbeitet hart, um diese Tiere zu ernähren, und erhält im Gegenzug Nahrung und Geselligkeit. Die Kuh gebiert ein Kalb, die Katze mehrere Kätzchen, so dass es um die Tiere immer wieder etwas zu tun gibt. Und der Hund ist ihr treuer Begleiter, den sie fast überall hin mitnimmt. Ausruhen kann sie sich nicht in ihrer Isolation.
Meine Hände, immer mit Blasen und Schwielen bedeckt, waren meine wichtigsten Werkzeuge geworden. Ich hatte die Ringe längst abgelegt. Wer würde schon seine Werkzeuge mit goldenen Ringen schmücken. Es schien mir absurd und lächerlich, daß ich es früher getan hatte.
Es dauert lange, bis die Frau sich in ihrem neuen Landleben eingefunden hat, der Spannungsbogen steigt und sich dann in einem Finale furioso abrupt entlädt. Ganz am Ende des Berichts bleiben die Frau, die Kuh und die Katze übrig, drei Exemplare des weiblichen Geschlechts also. Die »Männer«, verantwortlich für Gewalt und Zerstörung in der Welt, sind tot. Genau deswegen ist das Buch auch von Feministinnen so stark rezipiert worden: weil es als Abrechnung mit der patriarchalen und für eine weiblich gelenkte oder geordnete Welt verstanden werden kann. Man kann es aber genauso gut als Science-Fiction lesen oder als eine Robinsonade, das bleibt dem Leser überlassen und ist eine große Stärke des Romans.

Die klare Sprache und die Beschreibungen der Natur sind neben der Atmosphäre und dem Plot ebenfalls großartig. Zum Glück zeichnet Haushofer die Welt ihrer Protagonistin nicht einseitig, sondern kann die Natur in den schönsten, aber auch in furchterregenden Farben malen, wenn sie zum Beispiel die Gewitter beschreibt, die über das Tal hinwegziehen oder dort festsitzen. Insgesamt gesehen ist Haushofer ein imponierender Roman gelungen, der deshalb so markant ist, weil sie den Leser in die Haut der Frau hineinversetzt. »Die Wand« ist ein beeindruckender Bericht geworden über eine Frau, die auf sich selbst zurückgeworfen wurde und sich als Stadtmensch in einer ganz neuen Situation zurechtfinden muss. Nicht zuletzt die Verfilmung aus dem Jahre 2012 zeigt, dass der großartige Roman keineswegs an Aktualität verloren hat. Unbedingte Leseempfehlung!

Die Wand

285 Seiten, € 10,00, Taschenbuch
List, ISBN 978-3548610665

→ Leseprobe→ kaufen
Rezensiert von Dennis Gerstenberger