von Christa Wolf
Medea. Stimmen
Wir sprechen einen Namen aus und treten, da die Wände durchlässig sind, in ihre Zeit ein, erwünschte Begegnung, ohne zu zögern erwidert sie aus der Zeittiefe heraus unseren Blick. Kindsmörderin? Zum erstenmal dieser Zweifel. Ein spöttisches Achselzucken, ein Wegwenden, sie braucht unseren Zweifel nicht mehr, nicht unser Bemühen, ihr gerecht zu werden, sie geht.In der griechischen Mythologie segelt Jason mit der »Argo« nach Kolchis, um dort das Goldene Vlies zurück zu erlangen – das goldene Fell eines Widders, das dem König von Kolchis einst als Geschenk überreicht wurde. Mithilfe von Medea, der Tochter des Königs von Kolchis, gelingt es Jason, das Goldene Vlies zu rauben. Medea flieht daraufhin zusammen mit Jason aus ihrer Heimatstadt und gelangt so nach Korinth. Die beiden werden ein Paar und bekommen zwei Söhne.
Sowohl das Drama »Medea« von Euripides als auch Christa Wolfs Roman setzen an dieser Stelle an. In der griechischen Mythologie, erstmals durch Euripides überliefert, wird Medea von Jason verlassen, da diesem die Tochter des Königs von Korinth versprochen wird. Aus der Schmach heraus, verlassen worden zu sein, tötet Medea daraufhin ihre Rivalin, deren Vater und ihre eigenen Kinder, um sich an Jason zu rächen.
Doch Christa Wolf erzählt eine andere Geschichte. Medea wird hier nicht als rachsüchtige Mörderin dargestellt, sondern als das Opfer der Machtspielereien rund um das Königshaus von Karthago. Die Stimmen von sechs verschiedenen Akteuren lässt Christa Wolf sprechen. Die Stimmen geben uns einen Einblick in ihre Gedankenwelt, aus der heraus sich die Handlung des Romans konstruiert. Das Bild der wütenden Giftmischerin Medea wird korrigiert und kunstvoll mit dem mythologischen Hintergrund zusammengeführt, sodass sich ein ganz anderes Bild dieser Sage ergibt.
Ich sage mir, ich bin Medea, die Zauberin, wenn ihr es denn so wollt. Die Wilde, die Fremde. Ihr werdet mich nicht klein sehen.Medea wird zur stolzen, charakterstarken Frau, die manchmal ein wenig übernatürlich wirkt; als stünde sie schon lange über den Dingen, als wisse sie, was das Schicksal für sie schon lange bereit hält.
Gerade die unterschiedlichen Blickwinkel der »Stimmen« machen diesen Roman reizvoll. Immer tiefer verstrickt sich die Geschichte in Lügen und Anfeindungen, werden Intrigen gesponnen, verfallen die Einwohner Karthagos in einen Wahn aus Verleumdungen und panischer Fremdenfeindlichkeit. Am Ende möchte man sagen: Ja, das Bemühen, ihr gerecht zu werden war erfolgreich. Diese Medea, um einiges vielschichtiger als in der Überlieferung, scheint die richtige, die wahre Medea zu sein.
Medea. Stimmen
von Christa Wolf
Rezensiert von Rike Zierau
Rike liest nur halb so viel, wie sie es gern möchte und mag weniger als die Hälfte der Bücher nur halb so gern, wie sie es (vielleicht) verdienen. Iris Radisch hält sie für eines der besten Dinge, die der Literaturwelt passieren konnten.