Ansichten eines Clowns

Ich selbst bin nicht religiös, nicht einmal kirchlich, und bediene mich der liturgischen Texte und Melodien aus therapeutischen Gründen: sie helfen mir am besten über die beiden Leiden hinweg, mit denen ich von Natur belastet bin: Melancholie und Kopfschmerz. Seitdem Marie zu den Katholiken übergelaufen ist (obwohl Marie selbst katholisch ist, erscheint mir diese Bezeichnung angebracht), steigert sich die Heftigkeit dieser beiden Leiden, und selbst das Tantum ergo oder die Lauretanische Litanei, bisher meine Favoriten in der Schmerzbekämpfung, helfen kaum noch. Es gibt ein vorübergehend wirksames Mittel: Alkohol –, es gäbe eine dauerhafte Heilung: Marie; Marie hat mich verlassen.
Hans Schnier will nur eines: er will seine Frau zurück. Als ihn Marie verlässt, bricht eine Welt für den erfolgreichen Clown zusammen. Aus Verzweiflung gibt er sich dem Alkohol hin und fällt so immer tiefer die Karriereleiter hinab. Die Veranstalter sagen seine Auftritte ab und auch sein Agent wendet sich von ihm ab. Von seiner letzten Vorstellung bleiben ihm nur eine Zugkarte zweiter Klasse nach Hause, eine Flasche Kognac und ein verletztes Knie, das ihm das Leben nicht gerade leichter macht.

Aber in Bonn wird es nicht einfacher für ihn. Er ist pleite und alles erinnert an die Zeit mit Marie. Während er versucht Geld aufzutreiben und Informationen über den Aufenthaltsort Maries, reflektiert er unwillkürlich sein Leben und die Ereignisse, die zu seiner misslichen Lage geführt haben. Doch die Situation scheint aussichtslos – als Künstler in der Lokalzeitung verrissen, verweigern auch die Angehörigen und Bekannten ihre Hilfe. Aus Maries Katholikenkreis will ihm niemand sagen, wo Marie ist. Besonders von den Katholiken fühlt er sich betrogen, waren sie doch maßgeblich daran beteiligt, dass sie ihn verlassen hat. Sie hatte wohl das, was sie metaphysischen Schrecken nannte, nicht mehr länger ertragen.
Bei Marie fing ich schon an zu zweifeln: ihr >>metaphysischer Schrecken<< leuchtete mir nicht ein, und wenn sie nun hinging und mit Züpfner all das tat, was ich mit ihr getan hatte, so beging sie Dinge, die in ihren Büchern eindeutig als Ehebruch und Unzucht bezeichnet wurden. Ihr metaphysischer Schrecken bezog sich einzig und allein auf meine Weigerung, uns standesamtlich trauen, unsere Kinder katholisch erziehen zu lassen. Wir hatten noch keine Kinder, sprachen aber dauernd darüber, wie wir sie anziehen, wie wir mit ihnen sprechen, wie wir sie erziehen wollten, und wir waren uns in allen Punkten einig, bis auf die katholische Erziehung.
Auch finanziell ist keiner bereit ihm aus der Patsche zu helfen. Vor allem nicht seine Eltern, die zwar sehr wohlhabend sind, aber jeden Pfennig zweimal im Portemonnaie umdrehen. Also bleibt dem Komiker nur noch eine Möglichkeit an Geld zu kommen…

Nur wenige Stunden vergehen zwischen der Ankunft Schniers in Bonn und dem ruhmvollen Ende und doch hat man den Eindruck, dass unheimlich viel geschehen ist – vor allem in der Hauptfigur. Dies wird besonders durch die Erzählung aus der Ich-Perspektive und die zahlreichen Rückblenden erreicht, in denen man Einblicke in die Vergangenheit des Clowns bekommt. Auf ironisch-satirische Weise werden so seine Jugend während des Dritten Reiches, die Beziehung mit Marie und dem Treffen mit ihrem Katholikenkreis oder den Kommunisten reflektiert. Mehrzeilige Satzgefüge wechseln sich mit kurzen prägnanten Sätzen ab. Zahlreiche Dialoge durchbrechen die umfangreichen Monologe des Hauptdarstellers. Auf eine beängstigende Weise gelingt es dem Autor uns in den Protagonisten hineinzuversetzen – man möchte sich angesichts der aussichtslosen Situation schon vor einen Zug werfen und wird im nächsten Augenblick über die Unsinnigkeit dieses Gedankens aufgeklärt.
Ich zögerte an Selbstmord zu denken, aus einem Grund, der hochmütig erscheinen mag: ich wollte mich Marie erhalten.
Wie sehr viele von Bölls Romanen so spielt auch Ansichten eines Clowns in der Nachkriegszeit des 2. Weltkrieges. Wegen seines angeblichen Antikatholizismus löste er bei seinem Erscheinen 1963 heftige Diskussionen aus. Böll, wie er in einem Text 22 Jahre später klarstellte, wendete sich allerdings nicht gegen den Katholizismus an sich, sondern gegen bestimmte katholische Verbände und Organisationen. Aber auch was die Geschichte der Bundesrepublik betrifft, so ist, wie er selbst darlegt, sehr viel in diesem Buch versteckt. Zum einen wäre da sicher die fehlende Verarbeitung der NS-Zeit, die man im Roman besonders an den Eltern Schniers miterlebt – während des Krieges noch überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus, wendet sich die Haltung nach dem Krieg ins komplette Gegenteil. So arbeitet die Mutter zum Beispiel danach für das „Zentralkomitee zur Versöhnung rassischer Gegensätze“. Mit keinem Wort wird allerdings über die begangenen Missetaten gesprochen. Ein Grund dafür ist unter anderem wohl der institutionelle Katholizismus, der von seinen Anhängern fordert, sich abzufinden und nach vorne zu schauen. Nicht der Mensch steht im Vordergrund, sondern der Glaube an irgendwelche höheren Ordnungsprinzipien. So kann es nicht sein, dass Marie als Katholikin in wilder Ehe mit dem Komiker lebt. Das Motiv des Sich-Abfindens taucht vor allem auch bei den Gesprächen zwischen den Kreismitgliedern und Schnier wieder auf, jedoch denkt dieser nicht im Entferntesten daran aufzugeben. Er will trotz aller Hindernisse um sie kämpfen, auf seine Weise.

Ansichten eines Clowns

286 Seiten, € 16,95, gebunden
Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3423004008

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Rezensiert von Alexander Schau