Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.
Adoleszenz ist immer schon und überall problembehaftet gewesen. Aus einem Kinde dringt ein Jugendlicher hervor, aus dem wiederum ein Erwachsener; nicht erwachsend, sondern sich mehr oder weniger schmerzhaft aus den Vorstadien hervorschälend. Dass dem so ist, gibt dies wunderhübsche, handliche und einfach gut gemachte Büchlein Auskunft. Exemplarisch am jungen Törleß, welcher ein Internat besucht, das also die Handlungen desselben Hauptakteurs beherbergt und rahmt.

Da taucht unter anderem die Sexualität im Jüngling auf und trägt zur inneren Wirrnis das Ihrige bei - wie eine zuvor unbeachtete Blume am Wegesrand, die eines Tages, man hat es gar nicht bemerkt, Blüten trägt. Erst sehr klein, kaum farblich bestimmbar, noch in schüchternem Grün versteckt. Und es ist verwirrend, dies zu sehen und an dem persönlichen Lebensweg anzutreffen, wenn man es zuvor nie sah; es ist neu und spannend, macht aber auch Angst und hilflos, dem Wechselbad der Gefühle gegenüber, welches also ausgelöst ward.

Hinzu tritt ein ungeheures Ereignis, so wird es jedenfalls wahrgenommen in dem abgelegenen Internat, unter den Zöglingen, wo sonst Eintönigkeit und Strenge den Alltag bestimmt. Es ist Geld gestohlen worden, verschiedenen der Zöglinge durch einen von ihnen. Und ein Verdächtiger ist gefunden und »Beweise« auch. Die Frage lautet: Wie geht man mit dem Beschuldigten, oder kräftiger, dem Verräter/Verbrecher um?

Hier beginnt der Dreh- und Angelpunkt zu eiern. Zwei der Studierenden, es sind die Rädelsführer, die Alpha-Tiere unter den Zöglingen, beide mit je eigener Verwirrtheit ausgestattet, beschließen den erpressbar Gewordenen für ihre psychologisch-soziologischen Menschenversuche auszunutzen (die ins extrem Menschenverachtende gehen und einen seherischen Blick in eine braune Zukunft werfen, bereits 1906).

Der Nachwortautor verweist hierbei sehr klug auf Nietzsche und dessen konstatierten »Willen zur Macht«, welcher in beiden wirkt und sie mehr und mehr korrumpierend weitergehen lässt, längst die Menschlichkeit ihrer selbst leugnend und noch weiter. Drangsalierend. Was kann man einem Menschen alles antun, ohne ihn ganz zu zerstören? Und wenn man, was man zu erfahren suchte, schließlich erfährt oder eben auch nicht, wie weit ist dann der Schritt dahin, diesen Menschen doch noch zu vernichten? Es ist die bösartige Neugier kleiner Jungen, die Ameisen oder entlaufene Katzen quälen und/oder töten, nur ist sie mit einer Rationalität betrieben, die den Humanismus verleugnet um zu sehen, was es mit dem Schmerz des anderen, vielleicht mit dessen Tode, auf sich habe.

Törleß nun ist, er weiß selbst nicht recht wie, ein Vertrauter der beiden. Er wird in diese Geschichte hineingezogen, seine moralischen Einwände werden hinweggefegt und schließlich ist auch er von Neugier ergriffen, wenn auch von einer anderen. Also lässt er es geschehen, was er jederzeit mit einer Anzeige der Geschichte beim Dekan hätte beenden können. Als es jedoch noch grausamer zugehen soll und er auch auf zwiefach andere Art das Opfer zu sehen beginnt, entscheidet er sich zu handeln. Was er tut, möge jeder, den es interessiert, selbst herausfinden. Hinzu wird er erfahren, wie dies Törleß verändert und was nun mit ihm noch geschehen wird.
Aber zur allgemeinen Verwunderung erschien schon am nächsten Morgen der Direktor in der Klasse. In seiner Begleitung der Klassenvorstand und zwei Lehrer. Basini wurde von der Klasse entfernt und in ein eigenes Zimmer gebracht. Der Direktor aber hielt eine zornige Ansprache wegen der zutage getretenen Rohheiten und ordnete eine strenge Untersuchung an. Basini hatte sich selbst gestellt. Jemand musste ihn von dem ihm Bevorstehenden verständigt haben.
Man merkt eigentlich allen Texten Robert Musils an, dass ihr Autor literarisch und philosophisch einiges an Potenz in sich vereinte, wenn er auch, da er aus der Zeit fiel und aus der Gesellschaft, im Schmerz seines mitunter sehr verzweifelten Denkens diese Werke gebar. Von der Qualität dieser muss nicht geredet werden, sie ist klar und deutlich jedem offenbar, der zu diesem oder anderen seiner Bücher greift.
Basini schwieg stumpfsinnig zu allem. Vom vorgestrigen Tag her lag noch ein tödlicher Schreck auf ihm, und die Einsamkeit seiner Zimmerhaft, der ruhige, geschäftsmäßige Gang der Untersuchung waren für ihn schon eine Erlösung. Er wünschte sich nichts als ein rasches Ende.
Wer mag, der findet, konkret in diesem Buch, womöglich eigene Erinnerungen wieder; Erinnerungen daran, wie es war so zu wachsen und manchmal zu verwachsen. Es ist Sensibilität in Törleß, eine Aufmerksamkeit, die sich nach innen richtet, die über sein Alter hinausgeht, eine größere Reife anzeigt. Mit der jedoch kann seine Jugendlichkeit noch nicht recht etwas anfangen. Musil soll, dem Nachwortschreiber nach, hier auch eigene Erfahrungen verarbeitet haben. Das kann beklemmend wirken, aber auch einsichtsvolle Erkenntnis-Gewinne bringen. Als Leser darf man diese ruhig auf sich selbst übertragen, man kann und darf sich getrost fragen: Und wie war ich? Und was tat ich?
Wer will, kann hier entweder ein wenig nach sich selbst forschen, einen schlicht und einfach guten Roman lesen und/oder sich Lust holen, für ein größeres, aber nicht minder empfehlenswertes Werk von Robert Musil, den »Mann ohne Eigenschaften«. Alle drei, das Lesen begleitende und durchsetzende Vorgänge, seien hiermit wärmstens anempfohlen.
Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine Wald mit dem Hause Boženas. Er sah so unbedeutend und harmlos aus, ein verstaubtes Geranke von Weiden und Erlen. Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine Mutter. »Was willst du, mein Kind?« »Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.«
Rezension von Thomas Treichel

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

208 Seiten, € 5,99, broschiert / kartoniert
Rowohlt, ISBN 978-3-499-10300-1

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.
Adoleszenz ist immer schon und überall problembehaftet gewesen. Aus einem Kinde dringt ein Jugendlicher hervor, aus dem wiederum ein Erwachsener; nicht erwachsend, sondern sich mehr oder weniger schmerzhaft aus den Vorstadien hervorschälend. Dass dem so ist, gibt dies wunderhübsche, handliche und einfach gut gemachte Büchlein Auskunft. Exemplarisch am jungen Törleß, welcher ein Internat besucht, das also die Handlungen desselben Hauptakteurs beherbergt und rahmt.

Da taucht unter anderem die Sexualität im Jüngling auf und trägt zur inneren Wirrnis das Ihrige bei - wie eine zuvor unbeachtete Blume am Wegesrand, die eines Tages, man hat es gar nicht bemerkt, Blüten trägt. Erst sehr klein, kaum farblich bestimmbar, noch in schüchternem Grün versteckt. Und es ist verwirrend, dies zu sehen und an dem persönlichen Lebensweg anzutreffen, wenn man es zuvor nie sah; es ist neu und spannend, macht aber auch Angst und hilflos, dem Wechselbad der Gefühle gegenüber, welches also ausgelöst ward.

Hinzu tritt ein ungeheures Ereignis, so wird es jedenfalls wahrgenommen in dem abgelegenen Internat, unter den Zöglingen, wo sonst Eintönigkeit und Strenge den Alltag bestimmt. Es ist Geld gestohlen worden, verschiedenen der Zöglinge durch einen von ihnen. Und ein Verdächtiger ist gefunden und »Beweise« auch. Die Frage lautet: Wie geht man mit dem Beschuldigten, oder kräftiger, dem Verräter/Verbrecher um?

Hier beginnt der Dreh- und Angelpunkt zu eiern. Zwei der Studierenden, es sind die Rädelsführer, die Alpha-Tiere unter den Zöglingen, beide mit je eigener Verwirrtheit ausgestattet, beschließen den erpressbar Gewordenen für ihre psychologisch-soziologischen Menschenversuche auszunutzen (die ins extrem Menschenverachtende gehen und einen seherischen Blick in eine braune Zukunft werfen, bereits 1906).

Der Nachwortautor verweist hierbei sehr klug auf Nietzsche und dessen konstatierten »Willen zur Macht«, welcher in beiden wirkt und sie mehr und mehr korrumpierend weitergehen lässt, längst die Menschlichkeit ihrer selbst leugnend und noch weiter. Drangsalierend. Was kann man einem Menschen alles antun, ohne ihn ganz zu zerstören? Und wenn man, was man zu erfahren suchte, schließlich erfährt oder eben auch nicht, wie weit ist dann der Schritt dahin, diesen Menschen doch noch zu vernichten? Es ist die bösartige Neugier kleiner Jungen, die Ameisen oder entlaufene Katzen quälen und/oder töten, nur ist sie mit einer Rationalität betrieben, die den Humanismus verleugnet um zu sehen, was es mit dem Schmerz des anderen, vielleicht mit dessen Tode, auf sich habe.

Törleß nun ist, er weiß selbst nicht recht wie, ein Vertrauter der beiden. Er wird in diese Geschichte hineingezogen, seine moralischen Einwände werden hinweggefegt und schließlich ist auch er von Neugier ergriffen, wenn auch von einer anderen. Also lässt er es geschehen, was er jederzeit mit einer Anzeige der Geschichte beim Dekan hätte beenden können. Als es jedoch noch grausamer zugehen soll und er auch auf zwiefach andere Art das Opfer zu sehen beginnt, entscheidet er sich zu handeln. Was er tut, möge jeder, den es interessiert, selbst herausfinden. Hinzu wird er erfahren, wie dies Törleß verändert und was nun mit ihm noch geschehen wird.
Aber zur allgemeinen Verwunderung erschien schon am nächsten Morgen der Direktor in der Klasse. In seiner Begleitung der Klassenvorstand und zwei Lehrer. Basini wurde von der Klasse entfernt und in ein eigenes Zimmer gebracht. Der Direktor aber hielt eine zornige Ansprache wegen der zutage getretenen Rohheiten und ordnete eine strenge Untersuchung an. Basini hatte sich selbst gestellt. Jemand musste ihn von dem ihm Bevorstehenden verständigt haben.
Man merkt eigentlich allen Texten Robert Musils an, dass ihr Autor literarisch und philosophisch einiges an Potenz in sich vereinte, wenn er auch, da er aus der Zeit fiel und aus der Gesellschaft, im Schmerz seines mitunter sehr verzweifelten Denkens diese Werke gebar. Von der Qualität dieser muss nicht geredet werden, sie ist klar und deutlich jedem offenbar, der zu diesem oder anderen seiner Bücher greift.
Basini schwieg stumpfsinnig zu allem. Vom vorgestrigen Tag her lag noch ein tödlicher Schreck auf ihm, und die Einsamkeit seiner Zimmerhaft, der ruhige, geschäftsmäßige Gang der Untersuchung waren für ihn schon eine Erlösung. Er wünschte sich nichts als ein rasches Ende.
Wer mag, der findet, konkret in diesem Buch, womöglich eigene Erinnerungen wieder; Erinnerungen daran, wie es war so zu wachsen und manchmal zu verwachsen. Es ist Sensibilität in Törleß, eine Aufmerksamkeit, die sich nach innen richtet, die über sein Alter hinausgeht, eine größere Reife anzeigt. Mit der jedoch kann seine Jugendlichkeit noch nicht recht etwas anfangen. Musil soll, dem Nachwortschreiber nach, hier auch eigene Erfahrungen verarbeitet haben. Das kann beklemmend wirken, aber auch einsichtsvolle Erkenntnis-Gewinne bringen. Als Leser darf man diese ruhig auf sich selbst übertragen, man kann und darf sich getrost fragen: Und wie war ich? Und was tat ich?
Wer will, kann hier entweder ein wenig nach sich selbst forschen, einen schlicht und einfach guten Roman lesen und/oder sich Lust holen, für ein größeres, aber nicht minder empfehlenswertes Werk von Robert Musil, den »Mann ohne Eigenschaften«. Alle drei, das Lesen begleitende und durchsetzende Vorgänge, seien hiermit wärmstens anempfohlen.
Als sie zum Bahnhof hinausfuhren, lag rechts von ihnen der kleine Wald mit dem Hause Boženas. Er sah so unbedeutend und harmlos aus, ein verstaubtes Geranke von Weiden und Erlen. Törleß erinnerte sich da, wie unvorstellbar ihm damals das Leben seiner Eltern gewesen war. Und er betrachtete verstohlen von der Seite seine Mutter. »Was willst du, mein Kind?« »Nichts, Mama, ich dachte nur eben etwas.«
Rezension von Thomas Treichel

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

208 Seiten, € 5,99, broschiert / kartoniert
Rowohlt, ISBN 978-3-499-10300-1

Rezensiert von Gast