Toller Dampf voraus

Es ist nicht ganz leicht, Nichts zu verstehen, aber das Multiversum ist voll davon. Nichts kommt überallhin, ist immer schneller als Etwas, und in der großen Wolke der Unwissenheit sehnt sich Nichts danach, Etwas zu werden. Es will ausbrechen, in Bewegung kommen, fühlen, sich verändern, tanzen und Erfahrungen machen – kurz gesagt, Etwas sein.
Das Schöne an Terry Pratchetts Scheibenwelt-Romanen ist, dass sie die unterschiedlichsten Genres abdecken können – man muss nur wissen, welche Reihe einem was bieten kann: So liefern die Rincewind-Bücher, vor allem die frühen, klassische Fantasy-Parodien, die Stadtwache-Romane hingegen erzählen ernstere Geschichten mit Film-Noir-Touch und angenehmen soziologischen Exkursen. „Toller Dampf voraus“ nun ist ein Feucht-von-Lipwig-Roman, und alle Romane mit dem umtriebigen Ex-Gauner sind vor allem Geschichten über Fortschritt. Und so wundert es wenig, dass Pratchett sich für diese Geschichte einen jungen Ingenieur auserkor, um die Kraft des Dampfes zu bändigen. Dick Simnel heißt er, und binnen kurzer Zeit wird er dafür sorgen, dass die Eisenbahn ihren Siegeszug antritt, allen voran seine Prototyp-Lok mit Namen „Eisenpfeil“, die ein merkwürdiges Eigeneben zu führen scheint. Natürlich bedarf dieser Siegeszug einiger Organisation und selbstverständlich wird der geniale wie gefährliche Lord Vetinari, Patrizier von Ank-Morpork, der immer noch größten Stadt der Scheibenwelt, jemand ganz bestimmtes zwingen, all diese Mühen bereitwillig zu übernehmen: Genau, eingangs schon erwähnter Feucht von Lipwig, der bereits die Post, das Geldwesen und die Bank auf Vordermann bringen durfte, hat nun eine weitere Aufgabe. Und die wäre dank unzähliger Revierstreitigkeiten beim Verlegen der Schienen auch eigentlich schon schwer genug. Aber natürlich kommen noch einige politische Probleme hinzu, denn die Zwerge sind sich noch uneiniger als sonst schon, und als die erzkonservativen Tiefenzwerge einen Putschversuch üben, wird der schnelle Transport des Zwergenkönigs zum Brennpunkt des Streits zu einem echten Prüfstein für die neue Technologie.
Der Zug sauste durch die weite Landschaft. Hier gab es jede Menge Platz, das schon, aber nicht sehr viele Ortschaften, nur hin und wieder eine kleine Siedlung. Überall war so viel Raum, und Eisenpfeil fraß ihn wie ein Tiger, stürzte sich hungrig auf den Horizont, als wäre er eine Beleidigung, und machte nur dort halt, wo es Wasser und Kohle gab. Von beidem konnte man nie genug haben.
»Toller Dampf voraus« ist rappelvoll mit großen und kleinen Geschichten. Was wenig überrascht, wusste Terry Pratchett doch mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass er seiner Alzheimer-Erkrankung geschuldet nicht mehr viele weitere Romane würde schreiben können. Und mittlerweile ist es ja ein traurig zementierter Tatbestand, dass »Toller Dampf voraus« der vorletzte Scheibenwelt-Roman bleiben wird und gleichzeitig auch das wohl letzte Buch ist, das in der zentralen Metropole Ankh-Morpork spielt. Etwas tröstlich ist es also schon, dass man nicht nur viele, viele Figuren der vorangegangenen Romane zumindest kurz wiedertrifft (und natürlich bekommt auch „Zaubberer“ Rincewind, Antiheld der ersten Stunde, gleich mehrere passende Erwähnungen), sondern vor allem auch verschiedene noch offene Stränge ihren Abschluss bekommen. Hauptsächlich betrifft das natürlich die politischen Querelen der Zwerge, bei denen Pratchett an mehreren Stellen eine großartig gelungene, bedrückende Stimmung von Intoleranz und Unsicherheit aufbaut. Aber kurz eingeworfene gesellschaftliche Beobachtungen waren ja immer eine Stärke der vor allem späteren Werke dieses meisterhaften Erzählers.
Die vielen wiederaufgegriffenen Handlungen früherer Romane gestalten einen Einstieg für (Noch-)Nicht-Kenner der Scheibenwelt natürlich etwas schwierig, sodass man zumindest die anderen Lipwig-Romane, vor allem »Ab die Post« kennen sollte. Auch »Steife Prise«, den Quasi-Abschluss der Stadtwache-Geschichten, sollte man vorher gelesen haben, da es in »Toller Dampf voraus« auch wieder stark um die dort eingeführte Rolle der Goblins geht, aber das empfiehlt sich sowieso, ist »Steife Prise« doch einer der stärksten Scheibenwelt-Romane überhaupt und eine Fortführung der dort begonnen Entwicklungen somit nur zu begrüßen.
Was würde wohl passieren, dachte er, wenn die Goblins alles über die Menschen lernten und alles so wie die Menschen machten, weil sie es für besser hielten als die Goblin-Variante? Wie lange würde es wohl dauern, bis sie keine Goblins mehr waren und alles, was sie als Goblins auszeichnete, vergessen hatten, sogar ihre Töpfe?
Sprachlich und inhaltlich ist »Toller Dampf voraus« ein typischer Lipwig-Roman, irgendwo zwischen den mittlerweile fast ernsthaften Stadtwache-Geschichten und den albern-parodistischen frühen Rincewind-Schelmenstücken. Weshalb sich geistreiche Beobachtungen und schlicht aberwitzige Ideen hier genauso rasch abwechseln können wie eine schöne, soghafte Sprache und simple Albernheiten. Ab und an übertreibt es der Autor dann aber auch fast mit seinen Kinkerlitzchen, gerade die eine oder andere ganz amüsante Fußnote stört dann doch eher den Lesefluss, als dass sie unterhält. Verglichen mit anderen Geschichten aus Pratchetts »Spätwerk« kommt einem das stellenweise fast wie ein Rückschritt vor. Andererseits ist das bisschen Nostalgie, das zumindest alte Pratchett-Fans dadurch bekommen, aber auch nicht das unangenehmste auf der Welt.
Alles in allem ist »Toller Dampf voraus« zwar immer noch keine wirkliche Literatur (da finden sich bei Pratchett andere Reihen, die stärker an der Grenze zur Kunst schrammen), aber gewohnt gute Unterhaltung mit einem Hauch Tiefgang und jeder Menge Verve sowie eine gelungene Abschiedsvorstellung gleich mehrerer über die Jahre lieb gewonnener Figuren. Und wenn die Geschichte dann aus ist, man das Buch zugeschlagen hat – nach der Feststellung, dass selbstredend niemand anderes als Lord Vetinari das letzte Wort hatte – und sich so ein ganz leichtes Gefühl von Melancholie breit machen könnte, weil man erkennt, dass man wohl erstmal nicht wieder in die größte Stadt der Scheibenwelt zurückkehren wird, dann kann man sich immerhin damit trösten, dass der nächste und wirklich letzte von des Meisters Hand geführte Ausflug auf die Scheibenwelt wieder an der Seite von Tiffany Weh stattfinden wird. Und deren Geschichten sind üblicherweise Pratchetts Meisterstücke!
Lediglich die – wie könnte es auch anders sein? – kleinen Jungs jeden Alters folgten dem Ungetüm mit großen Augen und gelobten an Ort und Stelle, dass sie eines Tages Fahrer auf dieser schrecklichen, verderblichen Maschine sein würden, und kein Vertun! Herrscher des Dampfs! Meister der Funken! Fuhrleute der Donnerschläge!

Toller Dampf voraus

442 Seiten, € 17,99, broschiert / kartoniert
Manhattan, ISBN 978-3442547517
aus dem Englischen von Gerald Jung

Rezensiert von Martin Katzorreck