Vielen Dank für das Leben

Keiner wird sich wohl noch an den kalten Sommer neunzehnhundertsechsundsechzig erinnern. Normalerweise lag in dieser Jahreszeit ein Duft von blühenden Akazien über dem sozialistischen Teil des nordeuropäischen Landes. Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts.
Und am Ende denkt man sich: Vielen Dank? Ja, aber wofür denn eigentlich? Für ein Leben voll von Selbstaufopferung und Enttäuschung? Für eine Farce von einem Leben? Eine einzige, haltlose Lüge?
Doch der Reihe nach:

Zu Anfang kommt da in der tiefsten DDR ein kleiner Mensch zur Welt. Versehen mit dem eigenartigen Nicht-Namen Toto, wird ihm schon während der Geburt ein Leben zugeschrieben, das keines ist: Toto ist ein Hermaphrodit, ein geschlechtloses Etwas, das die sozialistische Bürokratie der Ordnung halber als »männlich« deklariert.
Der Vater ist abgehauen, die daueralkoholisierte Mutter mit diesem Ding von Anfang an heillos überfordert. Was soll man auch mit einem Kind anfangen, das einen nur anstarrt, das in der schäbigen Wohnung auf dem Boden liegt und nicht schreit, sondern beobachtet? Liebe ist hier von Beginn an ausgeschlossen, und als die Mutter sich dann irgendwann schon beinahe folgerichtig zu Tode gesoffen hat, landet Toto im Heim.

Was folgt, ist im Detail schon beinahe egal: Toto steht ein Leben bevor, das mehr Flucht und Versteckspiel ist als alles andere. Da ist niemand, aber auch wirklich absolut niemand, der ihn als das, was er/sie/es ist, versteht oder auch überhaupt nur akzeptiert. Toto schlägt geballte Ablehnung entgegen, wohin er auch den Fuß setzt. Vom Heim aus wird er nach Jahren an ein zutiefst asoziales Bauernehepaar auf dem Land verkauft, später geht’s im Frachtraum eines Busses über die Grenze in die BRD. Hass, wohin er auch geht.
Auch die spätere Operation ändert nichts daran. Was vorher ein irgendwie unförmiger Mann mit zu femininen Zügen war, ist nun eine ebenso unförmige und immer noch nicht »richtig« aussehende Frau. Von Kollegen wird Toto gedemütigt und getreten, man reißt ihr im Schutz der Dunkelheit die Kleider vom Leib, nur um Gewissheit über ihr Anderssein zu erlangen. Die Hausgemeinschaft verstößt sie, sie verliert nicht nur einmal ihre Wohnung, und ganz am Schluss stirbt sie so, wie sie ihr Leben lang war: Allein.
Ich werde niemals etwas wollen, schwor sich Toto. Ich werde ein Teil dieser hässlichen Umgebung sein, die man Natur nennt oder Gebäude, und ich werde, außer am Leben zu bleiben, keinen Ehrgeiz entwickeln. Es führt doch zu nichts, dieses Gewolle, das konnte er doch sehen an den verspannten Gesichtern der Erwachsenen, die offenbar alle nicht bekommen hatten, wonach sie verlangten. Ich werde wachsen und handeln, wie es die Lage verlangt, ich werde mich nicht wichtig nehmen und nett sein zu allen, die ich treffe. Das sollte langen, um die Zeit gut zu überstehen.
So viele neue Lebensanfänge, die alle scheitern. Und obwohl sich Toto schon in jungen Jahren mit der unausweichlichen Tatsache konfrontiert sieht, dass dieses Leben für ihn kein gutes werden wird, kann er den Menschen nicht wirklich böse sein. Er versucht wenigstens, erhobenen Hauptes vorausschauen und stellt sein eigenes Elend immer wieder hinten an. Er will doch nur helfen; in der völlig irrigen Hoffnung, dass, wenn er nur Gutes tut, ihm auch Gutes widerfährt, schlägt ihm die Welt immer wieder mit der Faust ins Gesicht.
So langweilig kann einem alleine nie werden wie mit einem Menschen, mit dem man sich nicht versteht und der glaubt, in einen verliebt zu sein.
Bereits nach wenigen Seiten ist deutlich zu erkennen, wohin die Reise letztlich gehen wird: Sibylle Berg schlachtet Totos Leben und die Niederlagen regelrecht aus, sie überzeichnet diesen gescheiterten Menschen und wirft immer und immer wieder noch eine Schippe voll menschlicher Hässlichkeit auf den großen Haufen drauf. Das alles ist zutiefst anstrengend und stellenweise nicht auszuhalten.

Wer jetzt aber fürchtet, Toto als Opfer der berüchtigten Berg’schen Giftspritzerei sehen zu müssen, irrt: Hier geht es nicht um Rollen, eine wie auch immer geartete Stigmatisierung hat in dieser Geschichte genau genommen herzlich wenig zu suchen. Natürlich pflastert Sibylle Berg Totos Weg erzählerisch mit beißendem Zynismus – der aber richtet sich nur selten gegen Toto, dafür aber umso stärker gegen alle anderen. Jede Landschaft, jede Ideologie und jeder noch so harmlose Kleine-Leute-Lebensentwurf wird hier mit Füßen getreten.

»Vielen Dank für das Leben« ist ein Roman, der einem bei der Lektüre nahezu körperliche Schmerzen bereitet. Bei so viel Abneigung und giftigem Hass wird jede weitere Seite zur Mutprobe. Ob man daran, was Frau Berg hier zu Papier gebracht hat, letztlich Gefallen findet, soll jeder für sich entscheiden. Wer dieses Buch angewidert zur Seite legt, genießt mein vollstes Verständnis. Das alles ist nicht schön und erst recht keine leichte Kost.
Mich zumindest hat »Vielen Dank für das Leben« verstört wie lange kein Roman mehr und tut es immer noch. Gnadenlos, schmerzvoll, auf seine Weise sicherlich auch pervers – schließlich aber doch eben auch zutiefst menschlich.

Vielen Dank für das Leben

400 Seiten, € 21,90, gebunden
Hanser, ISBN 978-3446239708

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Rezensiert von Alexander Schau