Das Phantom des Alexander Wolf

Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe. Seit dem Moment, als es geschehen war, erinnere ich mich an keinen Tag, da ich nicht Bedauern empfunden hätte darüber.
Gegen Ende des sowjetischen Bürgerkriegs wird in der russischen Steppe auf den damals 16jährigen Soldaten und namenlosen Ich-Erzähler geschossen. Eine Kugel durchschlägt den Kopf seines Pferdes, er selber bleibt unversehrt und erschießt seinen Gegner. Mit dessen Pferd reitet er davon, doch die Erinnerung an diesen tragischen Vorfall verfolgt und bedrückt ihn sein Leben lang.

Jahre später liest er die Erzählung »Das Abenteuer in der Steppe« des Autors Alexander Wolf, in welcher der Vorfall so detailliert wiedergegeben ist, dass sie nur vom totgeglaubten Gegner stammen kann. Weitere Jahre später kommt der Ich-Erzähler in einer Kneipe in Paris mit Wladimir Petrowitsch Wosnessenski ins Gespräch, der den Autor Alex Wolf persönlich kennt. Es vergehen weitere Monate, der Ich-Erzähler verliebt sich zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft in eine Frau, in die Russin Jelena Nikolajewna, und vergisst dabei die Geschehnisse um Alexander Wolf erneut.

Tatsächlich ist Alex Wolf eines Tages in Paris zu besuch, und die beiden einstigen Kontrahenten lernen sich über Wosnessenski persönlich kennen. Nach anfänglicher Zurückhaltung gibt sich der Ich-Erzähler zu erkennen und gesteht, dass er den beinahe tödlichen Schuss abgefeuert hat. Die Extremsituation hindert die beiden nicht, sich anzufreunden. Alex Wolf entpuppt sich als höchstinteressanter Gesprächspartner, gemeinsam streifen sie durch Paris und philosophieren über Gott und die Welt. Die Liebe zu Frauen ist ein zentrales Thema: Beide lieben Frauen, doch mit unterschiedlichem Erfolg. Alex Wolf kommt sehr gut an beim weiblichen Geschlecht, ist ein eloquenter Gesprächspartner, während der Ich-Erzähler unter seiner Hässlichkeit und Minderwertigkeitskomplexen leidet und deswegen auch nur Reporter geworden ist, wo er doch so gerne Schriftsteller geworden wäre wie sein einstiger Kontrahent. Dieser scheint ihm sowieso immer voraus, und trotz des schicksalshaften Aufeinandertreffens in der russischen Steppe und der beginnenden Freundschaft in Paris 15 Jahre später gibt es eine Spannung zwischen den Männern, die sich am Ende des Romans entladen muss.

Eine zentrale Frage des russischen Meisterwerks, das bereits 1947/48 erschien, ist die nach der Schicksalshaftigkeit der Menschen. Wie hat Alexander Wolf es geschafft, dem Tod von der Schippe zu springen? Ist es nicht vielleicht er, der die anderen ins Verderben stürzt? Kann man überhaupt seinem eigenen Schicksal entrinnen? Alex Wolf erzählt dem Ich-Erzähler eine persische Legende:
Zum Schah kam einmal sein Gärtner, in höchster Aufregung, und sagte zu ihm: Gib mir dein schnellstes Pferd, ich möchte so weit wie möglich fortreiten, nach Isfahan. Gerade als ich im Garten arbeitete, habe ich meinen Tod gesehen. Der Schah gab ihm das Pferd, und der Gärtner sprengte nach Isfahan. Der Schah ging in den Garten; dort stand der Tod. Er sagte zum Tod: Weshalb hast du meinen Gärtner so erschreckt, weshalb bist du ihm erschienen? Der Tod erwiderte dem Schah: Ich habe das nicht gewollt. Ich war erstaunt, deinen Gärtner hier zu sehen. In meinem Buch steht geschrieben, ich würde ihm heute Nacht weit von hier begegnen, in Isfahan.
Der kurze und kurzweilige Roman, der von vielen Kritikern zu Recht in höchsten Tönen gelobt wurde, ist äußerst vielschichtig und bei der ersten Lektüre in seinen Feinheiten nur schwerlich zu fassen. Für mich ist es einer der Romane, den ich mehrmals lesen und bei jeder Lektüre wieder etwas Neues entdecken kann, weil so viele existenzielle Fragen aufgeworfen werden, die zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Wer oder was ist zum Beispiel das titelgebende Phantom des Alexander Wolf? Sollte es nicht lieber Das Phantom Alexander Wolf heißen? Ist Alex Wolf seinem Schicksal nun entflohen oder hat er es doch nicht geschafft? Großartig, dass der Roman nach knapp 70 Jahren endlich auf Deutsch vorliegt und wir einen weiteren russischen Meister kennenlernen können, denn von solchen Büchern kann man nicht genug bekommen.

Wer nicht gerne selber liest, dem sei das ebenfalls hervorragende Hörspiel aus dem Hörverlag ans Herz gelegt. Auf einer CD ist das bereits dichte Werk noch weiter kondensiert und vertont. Ausgezeichnete Sprecher lassen die Szenen lebendig werden und am Ende den Wunsch aufkommen, die Replay-Taste zu drücken.

Das Phantom des Alexander Wolf

192 Seiten, € 9,90, broschiert / kartoniert
dtv, ISBN 978-3423143356
Rosemarie Tietze

Rezensiert von Dennis Gerstenberger