von Ian McEwan
Abbitte
Das Theaterstück - für das Briony Plakat, Programmzettel und Eintrittskarten entworfen sowie einen umgekippten Wandschirm in eine Abendkasse verwandelt und eine Sammelbüchse mit einer roten Kreppmanschette ausgeschlagen hatte - war in einem zweitätigen Schaffensrauch geschrieben worden, über dem sie sogar ein Frühstück und ein Mittagessen vergaß. Als alles bereit war, sah sie das fertige Werk ein letztes Mal durch, während sie auf die Ankunft ihrer Kusine und der beiden Vettern aus dem Norden wartete. Bis zur Heimkehr ihres Bruders blieb für die Proben noch ein einziger Tag Zeit.Ein Augenblick, der seidene Faden und die späte Reue eines Mädchens mit verhängnisvoller Fantasie. Es ist der heißeste Tag des Jahres 1935. Auf dem Landhaus der Familie Tallis herrscht Trubel und Aufregung: Leon Tallis kommt nach Hause und seine 13-jährige Schwester Briony hat im letzten Moment ihr Theaterstück »Die Heimsuchungen Arabellas« vollendet. Dass die Aufführung nicht stattfinden wird, rückt in den Hintergrund, als Briony beobachtet, wie sich ihre ältere Schwester Cecilia vor Robbie Turner auszieht, in Unterwäsche in den Brunnen springt und wieder auftaucht.
Briony missdeutet ihre Beobachtung, ebenso wie ein einzelnes Wort in Robbies Brief an Cecilia, den Blick in die Bibliothek und die Geschehnisse in jener Nacht im Garten des Landhauses. Der Stein eines irreversiblen Fehlers ist gelegt, der die Leben von Robbie, Cecilia und Briony ins Rollen bringt.
Die Schilderungen des schicksalhaften Abends nehmen den größten Raum des Romans ein. Die Ausdehnung eines einzigen Abends wird genutzt, um dem Leser die Charaktere Robbie, Cecilia und Briony vorzustellen und diese sowohl alleine, als auch in Interaktion miteinander erleben zu lassen. Wer sich als Leser durch den ersten - zugegebenermaßen stellenweise langatmigen und detailverliebten - Teil des Romans und die langen Sätze geschlängelt hat, wird mit einem Sog an Empfindungen entlohnt, dem es sich nur schwer zu entziehen gelingt. Kombiniert mit dem Mittel des multiperspektivischen Erzählens wird wunderbar gezeigt, wie unterschiedlich die Charaktere den Augenblick wahrnehmen und der Blick auf die Geschehnisse ergänzt wird.
Eindrucksvoll, atmosphärisch und detailreich schildert der Erzähler Robbies Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs in gleicher Weise wie den straffen Tagesablauf auf der Krankenstation, auf der Briony als Lernschwester arbeitet. Auf Basis einer vorbildlichen Recherche gelingt es McEwan, viele Details einzustreuen, die mit der Geschichte und dem Erzählfluss verschmelzen.
Die erzählte Zeit erstreckt sich über 64 Jahre. Nahezu genauso lange braucht Briony, um Abbitte zu leisten - Abbitte über die Geschichte einer tragischen Figur, deren gesamtes Leben im Schatten eines einzigen Augenblicks steht.
Abbitte
von Ian McEwan
Rezensiert von Alexander Schau
Alex lebt schon eine Weile nicht mehr in Leipzig, liebt aber immer noch Ebooks und liest eigenen Angaben zufolge durchschnittlich 6,73 Bücher pro Monat. Paulo Coelho findet er immer noch widerlich, daran hat auch der Umzug nichts geändert.