Der Vorleser

Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete im Frühjahr. Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer wurde ich.
Wenn es etwas gibt, wovon wir Deutschen mehr als genug haben, dann sind es Bücher über unsere Vergangenheit. Zweiter Weltkrieg und Drittes Reich sind Themen, die jedem noch so langweiligen Buch schnell die nötige Würze verleihen können, um es brisanter, aufrührender oder schlicht greifbarer zu machen. Nazi-Deutschland als quasi-geschichtlicher Maggi-Brühwürfel hat bisher jeden noch so schwachen Plot aufgepeppt.
Ich behaupte, dass das eine einfache Methode ist, aus Mist Gold oder doch zumindest etwas weniger Mist zu machen. Anders sieht es schon aus, wenn die dem Plot zu Grunde liegende Idee eben ihren Nährboden aus unserer Geschichte bezieht, wenn also all dieses Schlechte von damals nicht nur bloßes Füllmaterial, sondern regelrecht Antriebskraft für die Geschichte ist. Das erfordert dann schon etwas mehr Geschick, und das kann noch schneller nach hinten losgehen.

Schlink erzählt nun eben eine Geschichte, deren Hauptmotiv dem grausamen KZ-Alltag entlehnt und dennoch voller Poesie ist: Michael erzählt uns von seiner Liebe zu Hanna, der damals wie auch heute viel älteren Frau. Mit fünfzehn hat er sie kennen gelernt, ein Zufall hat die beiden zusammengeführt und Michael ist Hanna bald schon hoffnungslos verfallen. Die beiden nehmen sich Zeit füreinander, lieben sich, Hannah badet den Jungen und dieser wiederrum liest ihr oft stundenlang vor. Sie sitzt einfach nur da und lauscht, folgt den Geschichten. Die Beziehung der beiden verhärtet sich, sie gewöhnen sich immer mehr aneinander, es könnte alles so schön sein - doch eines Tages ist Hanna einfach weg. Spurlos verschwunden. Und Michael vergisst und verdrängt die Erinnerung an sie.

Jahre später, als Student, sieht er sie dann zufällig wieder: Zusammen mit einigen anderen früheren KZ-Aufseherinnen wird sie des Mordes an einer ganzen Gruppe Gefangener beschuldigt, die sie damals in einer verlassenen Kirche elendig verbrennen ließen.
Michael wohnt der Verhandlung bis zum Schluss bei, mit beinahe peinlicher Genauigkeit observiert er seine frühere Geliebte regelrecht. Irgendwann lässt ihn die zuvor erfolgreich zur Seite geschobene Erinnerung nicht mehr los und reißt ihn zurück; wer ist diese Frau, wer war sie, und warum hat er sie geliebt? Und warum lässt sie ihn nachwievor nicht los?
Die Verlesung dauerte mehrere Stunden. Als die Verhandlung beendet war und die Angeklagten abgeführt wurden, wartete ich, ob Hanna zu mir schauen würde. Ich saß da, wo ich immer gesessen hatte. Aber sie schaute geradeaus und durch alles hindurch. Ein hochmütier, verletzter, verlorener und unendlich müder Blick. Ein Blick, der niemanden und nichts sehen will.
So interessant der Ansatz Schlinks zu dieser Geschichte auch sei, so verschwenderisch geht er meiner Meinung letztlich damit um. Die Frage danach, wieso der Vorleser nun eigentlich ist, was er ist, wird zwar durchaus thematisiert, erhält aber für meinen Geschmack dann insgesamt doch zu wenig Raum. Diese besondere Art Hass-Liebe zur Literatur, die Hannas Figur mehr als alles andere bestimmt und ihr ganzes Handeln und eigentlich sogar ihr ganzes Leben versteh- und erklärbar macht, geht leider unter dem einlullenden Geseiere Michaels irgendwann unter. Es wird zu viel beobachtet, viel zu viel erklärt und analysiert. Dem Leser bleibt kaum die Möglichkeit, sich von irgendetwas selbst ein Bild zu machen. Die vereinzelt aufkeimenden Fragen nach Gut und Böse und dem Stellenwert von Ethik und Moral wirken dann entweder völlig deplaziert oder unerträglich schulmeisterlich: Ja, wir und unsere Kollektivschuld, ach bitterböses Deutschland!
Alles in allem bleibt ein bitterer Beigeschmack zurück, kaum eine Chance der eigenen Interpretation. Ich kann nichts anfangen mit Büchern, die mir vorschreiben, was ich wie zu denken habe. Danke, das entscheide ich gern selbst.

Der Vorleser

208 Seiten, € 9,90,
Diogenes, ISBN 978-3257229530

Rezensiert von Alexander Schau