Oben ist es still

Ich habe Vater nach oben geschafft. Nachdem ich ihn auf einen Stuhl gesetzt hatte, habe ich das Bett zerlegt. Wie er auf dem Stuhl saß, erinnerte er an ein wenige Minuten altes Kalb, noch bevor es saubergeleckt ist; mit unkontrolliert wackelndem Kopf und einem Blick, der nichts festhält.
Helmer van Wonderen, um die 50 Jahre alt und Bauer in der Nähe von Monnickendam in den Niederlanden, wollte nie den Hof seines Vaters übernehmen, doch als sein Zwillingsbruder Henk im Alter von 19 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kommt, bleibt ihm keine andere Wahl. Obgleich sein Vater damals Henk als seinen Nachfolger wählte und Helmer, der in Amsterdam studierte, größtenteils übersah, mussten sich Vater und Sohn miteinander arrangieren und bewerkstelligten dies über die Jahre doch mehr schlecht als recht. Der alte van Wonderen zwang Helmer das Studium aufzugeben und warf Henks Verlobte Riet aus dem Haus, die am Steuer des Unfallwagens gesessen hatte. Was den Ausdruck von Zuneigung und Liebe zwischen Vater und Söhnen anbetraf, so war dieser bestenfalls geringfügig ausgeprägt und auch die Mutter konnte nicht vermitteln. Ihr blieben nur Blicke, um sich mitzuteilen und als sie verstirbt, bleibt Helmer mit seinem Vater allein zurück, obgleich er all die Jahre ein Teil von "Henk und Helmer" gewesen war.

Nach vielen Jahren, der alte van Wonderen ist inzwischen über achtzig, beschließt Helmer, noch immer unverheiratet, klar Schiff zu machen. Er trägt den Greis, der kaum mehr allein stehen kann und sich dennoch beharrlich weigert endlich zu sterben, ins Obergeschoss des Elternhauses und richtet sich unten neu ein. Aus den Augen, aus dem Sinn, hofft Helmer. Seiner Nachbarin Ada gegenüber, die als einzige so etwas wie eine Freundin zu nennen ist, behauptet er, sein Vater wäre bereits senil und er lässt auch keinen Arzt ins Haus kommen, als der Alte danach verlangt. Oft scheint es, als mache Helmer sich einen Spaß daraus sich nach seinen Bedürfnissen zu erkundigen, nur um sie dann doch zu ignorieren. Doch dann meldet sich Riet, die Witwe seines Bruders und durchbricht die Stille.

„Oben ist es still“ zeigt sich wunderbar ereignislos, in stillen Szenerien, die so ruhig und zurückhaltend sind, wie die karge Landschaft mit ihren Schafen und Weiden, in der die Geschichte spielt.
Ich stehe in der Schlafzimmertür und betrachte die Wolldecken auf meinem Einzelbett. Die obere Decke hat fransige Ränder. Dann drehe ich mich um und schaue die leeren Wohnzimmerwände an. Irgendwas an Kunst. „Helmer!“ schreit der Alte oben. Ich lege mich auf das Sofa und schließe die Augen. Dänemark.
Autor Gerbrand Bakker lässt seinen Protagonisten Helmer van Wonderen in einer schnörkellosen und dennoch überraschend ausdrucksstarken Sprache erzählen, sodass sich dessen facettenreiche Emotionen dem Leser erst nach und nach eröffnen und viele Dinge, sowohl zwischen Vater und Sohn als auch zwischen Helmer und Riet, unausgesprochen im Hintergrund bleiben. Durch die völlige Abwesenheit kitschiger, lauter Szenen gibt dieses Buch viel Raum um aufzuatmen und ist somit schlicht angenehm anders.

Oben ist es still

393 Seiten, € 12,00, gebunden
Suhrkamp, ISBN 978-3518467930

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Rezensiert von Juliane Kopietz