Ausweitung der Kampfzone

Am Freitagabend war ich bei einem Arbeitskollegen eingeladen. Ungefähr dreißig Leute, alles mittlere Führungskräfte, fünfundzwanzig bis vierzig Jahre alt. Irgendwann begann plötzlich so eine kleine Verrückte sich auszuziehen.
Aufrütteln wollte Houllebecq Ende der Neuziger mit diesem Roman, und das ist ihm damals auch wunderbar gelungen: Schnell entwickelte sich das Buch zu einem kleinen Stück Skandallektüre, das die Gesellschaft in all ihrer Hässlichkeit und Leere ans offene Messer lieferte.
Die Geschichte rund um den jungen, dynamischen und erfolgreichen Erzähler ist dabei eher nebensächlich, scheint es: Houllebecq skizziert vieles mehr, als dass er es erzählt. Er setzt die einzelnen Episoden wie Bausteine zu einem großen, alles überschattenden Gefühlspanorama zusammen. Verbitterung spricht aus fast allem, und zu ihr gesellt sich der unverhohlene Neid auf all die anderen, denen es scheinbar immer viel besser geht. Ernüchtert bricht er unsere Gesellschaft auf zwei einfache Systeme herunter: Auf der einen Seite Geld, Macht und Angst, auf der anderen Gefühle, allen voran Liebe.
Jeder von uns steckt in diesen Systemen fest, kann ihnen nicht entkommen. Ohne sie geht es nicht.
Es war ebenfalls ein 26. Mai gewesen, am späten Nachmittag, als ich empfangen wurde. Der Koitus hatte im Wohnzimmer stattgefunden, auf einem unechten pakistanischen Teppich. Im Augenblick, als mein Vater meine Mutter von hinten nahm, hatte sie die unglückliche Idee, den Arm auszustrecken und seine Hoden zu streicheln, sodass es zur Ejakulation kam. Sie hatte Lust empfunden, aber keinen richtigen Orgasmus. Kurz darauf hatten sie kaltes Huhn gegessen. Das war jetzt zweiunddreißig Jahre her; damals gab es noch richtige Hühner.
Die klare, nüchterne Sprache passt zu dieser Weltsicht natürlich wie die Faust aufs Auge; jeder Schnörkel und nur der leiseste Hauch von Poesie wäre hier wohl fehl am Platz.
Sehr positiv ist mir die Zurückhaltung aufgefallen, mit der hier trotz der geballten Weltkälte vorgegangen wird: Natürlich geht es Houllebecq darum, (s)eine Sichtweise zu vermitteln, aber dazu holt er nicht den Holzhammer aus dem Keller, er will niemanden zu etwas zwingen und tut es auch nicht. Man wird während der Lektüre nicht dazu gezwungen, das eigene Denken auszuschalten, wird immer wieder dazu angeregt, aufzuwachen. In alldem steckt auch eine Prise Philosophie, die Einladung dazu, den eigenen Kopf nicht gänzlich zu vergessen.

Ausweitung der Kampfzone

160 Seiten, € 9,90, broschiert / kartoniert
Wagenbach, ISBN 978-3803126894

Rezensiert von Alexander Schau