Umarmungen am Ende der Nacht

Ich lasse die Tür sperrangelweit offen. Vielleicht verirrt sich ein Hotelgast in mein Zimmer. Ein angetrunkener Handlungsreisender, dem es egal ist, wohin er sich legt. Irgendjemand, der bereits ist, in dieser Nacht einen Unbekannten zu wärmen.
Nun liegt ein weiteres Buch aus der Feder des Berliner Autors ausgelesen neben mir, und wieder fühle ich mich nach dem Lesen ganz anders als vorher, rundum verändert und in meinem grundsätzlichen Menschenverständnis hinters Licht geführt. Das Gefühl, mit dem mich die in diesem Band versammelten zehn Erzählungen zurück- und alleinlassen, wirkt auch Stunden später noch nach. Mario Wirz hat wieder einmal das Unmögliche geschafft und tief in mir drin die Frage aufgeworfen, ob vielleicht doch nicht alles so falsch ist, wie man es sich gern einredet.

Die Menschen, die hier entworfen werden, sind Versager auf der ganzen Linie; selbst ihre geregelten Lebenswelten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der Oberfläche völliges emotionales Chaos herrscht: Seit Jahren unterdrückte sexuelle Neigungen, Alkohol, mit aller Beharrlichkeit aufgezogene und gepflegte Lügenfundamente, ohne die eine Partnerschaft undenkbar wäre. Jeder der Protagonisten belügt seine Mitmenschen, und vor allem sich selbst, jedes Wort ist Theater, jeder Tag ist eine Aneinanderreihung von Rollen und ein ständiger Maskenwechsel. Sie haben sich mit dieser Identität abgefunden und eigentlich wäre alles so einfach für sie, wenn nicht die Vergangenheit immer wieder an ihre Tür klopfen würde.
Robert starrte auf seine Briefanfänge und zerriss sie. All das war Geschwätz. Buchtabengewinsel. Es gab nichts mehr zu sagen. Er streute die Papierschnipsel auf sein Bett und wusste, dass diese theatralische Geste seinen Freund bezaubert hätte. Dann öffnete er die Schatulle, in der er alle Briefe von Stefan aufbewahrt hatte, nahm sie einzeln heraus und verwandelte auch sie in Papierschnee. Die erste Liebe seines Lebens schneite auf das Bett, ein trauriger Konfettischnee, in dem er in dieser Nacht schlafen würde, um das Ende seiner Liebe mit seinem Körper zu besiegeln.
Auch wenn die entworfenen Bilder als Erzählband tituliert sind, ist dieses Buch doch eigentlich auch mehr, beinahe ein fragmentarischer Roman, denn immer wieder verflechten sich die Geschichten und Schicksale miteinander, frühere Charaktere werden durch folgende noch klarer und verständlicher beschrieben. Es scheint fast so, als ähnelten sich all diese Menschen, auch wenn sie gleichzeitig unterschiedlicher kaum sein könnten. Es ist die Vergangenheit, die sie alle zusammenhält; die Vergangenheit und die Unfähigkeit, aufrecht durchs Leben zu gehen und sich morgens im Spiegel betrachten zu können.

Umarmungen am Ende der Nacht

189 Seiten, € 7,95,
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746620695

Rezensiert von Alexander Schau