Seide

Es war das Jahr 1861. Flaubert schrieb gerade Salammbô, das elektrische Licht war noch graue Theorie, und Abraham Lincoln führte jenseits des Ozeans einen Krieg, dessen Ende er nie erleben sollte.
Hervé Joncour kauft und verkauft Seidenraupen. Er holt sie von jenseits des Mittelmeers, aus Syrien und Ägypten. Jedes Jahr macht er sich auf die Reise, legt tausende von Kilometern zurück, um tausende von Raupenlarven nach Lavilledieu zu holen. Die dort ansässigen Spinnereien fertigen kunstvolle Seide, und schon bald ist das kleine Städtchen zu einem der wichtigsten Seidenzentren Frankreichs geworden.
Als aber in einem Jahr eine Seuche sämtliche Raupen dahinrafft, wagen die Bewohner des Städtchens etwas Unglaubliches: Eine Expedition wird vorbereitet, Hervé Joncour soll nach Japan reisen und die Larven dort einkaufen. Ausgerechnet nach Japan soll er reisen, dorthin, wo seit Jahren niemand einreisen darf.
Er passierte die französische Grenze bei Metz, reiste nach Österreich ein, erreichte mit dem Zug Wien und Budapest, um dann bis Kiew weiterzufahren. Er legte zu Pferd zweitausend Kilometer russische Steppe zurück, überquerte den Ural, gelangte nach Sibirien und fuhr vierzig Tage bis zum Baikalsee, der von den Einheimischen »der Dämon« genannt wurde. Er folgte dem Lauf des Amur an der chinesischen Grenze entlang flussabwärts bis zum Ozean, und als er den Ozean erreicht hatte, blieb er elf Tage im Hafen von Sabirk, bevor ihn ein Schiff holländischer Schmuggler nach Kap Teraya an die Westküste Japans brachte. Zu Fuß zog er durch Nebenstraßen durch die Provinzen Ishikawa, Toyama und Niigata, kam in die Provinz Fukushima und erreichte die Stadt Shirakawa, er umging sie in östlicher Richtung und wartete zwei Tage auf einen schwarzgekleideten Herrn, der ihm die Augen verband und ihn in das Dorf von Hara Kei brachte.
Von ebendiesem erwirbt Hervé Joncour nicht nur einige Kisten mit Eiern, es beginnt sich auch so etwas wie eine Freundschaft zwischen den beiden zu entwickeln. Der Franzose wird in den kommenden Jahren stets wieder nach Japan kommen, doch die Larveneier sind schon bald nicht mehr der Hauptgrund für seine Reise: Die Frau an Hara Keis Seite fasziniert ihn ungemein, sie ist keine Asiatin und spricht nie auch nur ein einziges Wort mit ihm. Dennoch sind die zwei von der ersten Sekunde an wie miteinander verbunden, über alle sprachlichen und sittlichen Grenzen hinweg. Die fremde Frau schenkt ihm Blicke, die ihn umnebeln, und voller Begehren nach dieser Schönheit reist Hervé letztlich ab, nur um im kommenden Jahr zurückzukehren und an ebendiesem Punkt wieder anzuknüpfen.
In Lavilledieu werden unterdessen neue Spinnereien errichtet, um der steigenden Produktion Herr werden zu können, und Hervé selbst lässt einen Park auf seinem Besitz anlegen, eine so schöne und beeindruckende Anlage, wie sie die Bewohner des Städtchens nie zuvor gesehen haben. Währenddessen nimmt langsam und mit den Jahren die stille Liebesgeschichte zu der Fremden eine Wendung, wie sie anrührender kaum sein kann.
Bisweilen, an windigen Tagen, ging er zum See hinunter und schaute stundenlang hinaus, denn es schien ihm, als zeichne sich auf dem Wasser das unerklärlich, schwerelose Schauspiel dessen ab, was sein Leben gewesen war.
Zauberhaft und unglaublich berührend erzählt Baricco von einer Geschichte, die durch Momente am Leben erhalten wird, durch Gesten und Blicke und angedeutete Berührungen. Seine Liebe zum Detail und zu stellenweise beinahe absurd-skurrilen Figuren und Nebengeschichten geben seiner Erzählweise etwas Märchenhaftes. Es ist immer, als lausche man einem echten Geschichtenerzähler, man merkt Baricco mit jedem Satz an, dass er das, was er beschreibt, aus seinem tiefsten Inneren zu Tage gefördert hat. Alles fügt sich ineinander, er reiht Worte und Gedanken auf wie Perlen auf einer Holzkette, er komponiert seine Geschichten regelrecht. Und das macht er ausgezeichnet und wie kein Zweiter.

Seide

144 Seiten, € 10,00, gebunden
Hoffmann & Campe, ISBN 978-3455000566
aus dem Italienischen von Karin Krieger

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Rezensiert von Alexander Schau