Vernichten

An manchen Montagen Ende November oder Anfang Dezember fühlt man sich, besonders als Alleinstehender, wie im Todestrakt. Die Sommerferien sind längst vorbei, das neue Jahr ist noch weit weg; das Nichts ist ungewohnt nah.
Mit diesen Worten begrüßt uns der Großmeister des europäischen Requiems und lässt keinen Zweifel daran, dass dort, wo Houellebecq drauf steht, auch garantiert Houellebecq drin ist. Aber der Reihe nach. Mit den Romanen »Unterwerfung« und »Serotonin« hat sich der Schriftsteller Michele Houellebecq einen Ruf erschrieben, der für zeitgeistige Literatur mit einer Mischung aus Milieustudie des französischen Bürgertums und der Lust am Affront steht.
Paul Raison, die Hauptfigur in Houellebecqs neuestem Roman »Vernichten«, ist höherer Beamter im Wirtschaftsministerium. Dort scheint er mehr aus standesgemäßer Konvention als aus Ehrgeiz gelandet zu sein. Ambitionslos stellt man sich die Jahre vor, die er dort gefristet hat, bevor der Leser ihm begegnet. Doch der Zufall will es so, dass er dem Räderwerk des innersten Zirkels der politischen Macht durch die Männerfreundschaft zum Wirtschaftsminister näher kommt. Es herrscht Wahlkampf und das politische Establishment steht naturgemäß unter Hochspannung, als im Internet zuerst mysteriöse Botschaften und dann ein Video, das die Hinrichtung seines Vorgesetzten zeigt, auftauchen. Dieser Erzählfaden erzeugt einen starken Spannungsbogen, der den Roman eine weite Strecke trägt.

Beinahe wähnt man sich in einen Abenteuerroman à la James Bond, doch bald beginnt Houellebecq damit, Nebenerzählungen und dystopische Traumsequenzen einzuweben, die die Spannung hinauszögern und dämpfen. Paul Raisons Vater erleidet einen schweren Schlaganfall. Paul, der nur sehr losen Kontakt zu seiner Familie hat, wird dazu gezwungen, sich mit seiner Familie auseinander zu setzen: Mit seiner Schwester mit ihrem starken katholischen Glauben und einem Gatten, der identitär-rechten Kreisen nahe steht; mit seinem Vater, den er kaum zu kennen scheint, und seinem jüngeren Bruder und dessen egozentrischer und raffgieriger Frau. All diese Figuren zeichnet Houellebecq außergewöhnlich klar. Man merkt, dass sie nicht nur Mittel zum Zweck der Geschichte sind, sondern, dass er Anteil an ihnen nimmt.

Im Allgemeinen bleibt die Ordnung der Welt stabil, die Dinge gehen ihren Gang; aber gelegentlich, wenn auch selten, kann es passieren, dass ein Ereignis eintritt.
Dieser schlichte und nüchterne Satz ist ein Schlüsselpunkt dieses Romans. Er ist das Zentrum des Spinnennetzes, dass Houellebecq webt. Und so schlicht diese Worte auch wirken, bergen sie doch eine subtile Drohung und unheilvolle Macht. Darin ist Houellebecq meisterhaft: Schlaganfall, mysteriöse bekennerlose Terrorakte, Krebsdiagnose, Liebe. Das sind die Ereignisse, mit denen Paul Raison konfrontiert wird. Nach der eigenen Krebsdiagnose treten alle anderen Dinge in seinem Leben - ausgenommen die wieder aufkeimende Liebe und das Begehren zu seiner Frau Prudence - in den Hintergrund. Und genau darin liegt gleichzeitig auch die größte Schwäche des Romans: Es tritt einfach zu viel in den Hintergrund. Das politische Spiel um den Wahlkampf exerziert Houellebecq noch zu Ende; die Aufklärung der Terrorakte und mysteriösen Botschaften verläuft aber erzählerisch genauso im Sande wie die nur angedeutete Rolle seines Vaters in Raisons Leben. Krebs, Sex und Tod sind die Fixpunkte, um die sich bis zur letzten Seite alles dreht.
Und doch werden Houellebecq-Fans trotz einiger Schwächen von diesem Roman nicht enttäuscht sein, und auch für Freunde anspruchsvoller Gegenwartsliteratur ist »Vernichten« durchaus eine Empfehlung.

Vernichten

624 Seiten, € 28,00, Hardcover
DUMONT, ISBN 978-3832181932
aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek

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Rezensiert von Matthias Hey