von Wolfgang Schömel
Die Reinheit des Augenblicks
Mir war klar, dass wir in fast elftausend Metern Höhe flogen. Spontan hätte ich allerdings geschätzt, dass es lediglich ein paar Hundert Meter waren bis zu dieser vollkommen weißen, von Schründen oder Tälern durchzogenen Fläche da unten. Wie tief waren die Täler, wie breit? Schwer zu sagen.Zuerst einmal: Dieses Buch ist kein Roman, sondern ein Sammelband mit Geschichten. Und die haben es in sich!
Sieben Stück sind es insgesamt, und obwohl sie sich auf den ersten Blick so ähnlich sind, ist doch wieder jede einzelne eine eigene kleine Welt, ein auf wenige Seiten ausgedehnter Mikrokosmos der menschlichen (männlichen) Unzulänglichkeit.
Der Autor entführt uns, stößt uns mitten hinein in das Leben von sieben Männern, von denen wohl niemand behaupten kann, ein glückliches, vor allem aber ein "normales" Leben zu führen. Es geht um Liebesgeschichten, um Frauen im Allgemeinen und Sex im Speziellen, und vor allem dreht sich alles ums Scheitern. Wie es wohl sein muss, sich immer wieder aufzurappeln, um gleich darauf wieder hinzufallen. Darin nämlich sind fast alle von Schömels Figuren, wenn sie auch sonst schon nichts sind, große Helden.
Dann kam der Silvesterabend, und sie hatten fest vor, die allgemeine Euphorie zu nutzen, um Mädchen kennen zu lernen. Sie waren wirklich fürchterliche Idioten. Es wurde zwölf, sie standen vor den Fensterscheiben der teuren Restaurants in der Kälte und schauten, wie alle ihr Leben irgendwie im Griff hatten, alle außer ihnen selbst. Zur Knallerei kamen die Leute kurz raus, dann leerten sich die Straßen wieder, es fing an zu schneien, und man war allein. Wieder einmal waren die Pläne nicht aufgegangen.Interessant an diesen Geschichten ist aber, dass sie sich in keine Schublade stecken lassen: Es gibt kein gutes oder schlechtes Ende, eine so einfache Einteilung in schwarz und weiß sucht man vergeblich. Es gibt niemanden, der nicht auch Glück hätte, es gibt immer wieder winzig kleine Lichtblicke und Ereignisse, die das bisherige Leben ein wenig umlenken und in neue Richtungen führen. Und: Trotz des ständigen Zusammenspiels zwischen Glück und Pech, zwischen Vorankommen und Stillstand wartet hinter alldem kein erhobener Zeigefinger, sondern einfach ein Mann, der beobachtet, der alle Dinge - und vor allem die kleinen, unscheinbaren - festhält und erzählt. Ein Mann, dem nichts entgeht, und der es vor allem nicht darauf abgesehen hat, poetische Schönheitsideale zu illustrieren. Er vollbringt das kleine Wunder, selbst die schrägsten Charaktere ganz und gar wertungsfrei zu beschreiben. Und das tut er mit einer Sprache, die gleichzeitig gewaltig ist und scharf, die scheinbar alles sagt und doch eigentlich nur anreißt.
Ein Buch, das ich zwischendurch nur schwer zur Seite legen konnte, weil ich alles wissen wollte über diese Menschen, weil auf den Seiten soviel Wahrheit und soviel bisher Unbeachtetes stecken. Und, zugegeben, vielleicht doch auch ein klitzekleines Bisschen Moral.
Die Reinheit des Augenblicks
von Wolfgang Schömel
Rezensiert von Alexander Schau
Alex lebt schon eine Weile nicht mehr in Leipzig, liebt aber immer noch Ebooks und liest eigenen Angaben zufolge durchschnittlich 6,73 Bücher pro Monat. Paulo Coelho findet er immer noch widerlich, daran hat auch der Umzug nichts geändert.