Die Ängstlichen

Auf dem fünftgrößten Planeten unseres Sonnensystems herrschten in diesem Tagen Missstand und Furcht. Die Sonne, dieser bislang verlässliche, in 50 Millionen Kilometern Entfernung strahlende Begleiter, war im Begriff auszukühlen.
Genauso wie das Zusammentreffen einer Kalt- und Warmluftfront über der hessischen Kleinstadt Hanau zu einem meteorologischen Kollaps führt und sich in Form von starkem Regen, Blitz und Donner sowie orkanartigen Windstößen über das Land ergießt, kollabieren auch die bisher beschaulichen Lebensrealitäten (oder sollte man sagen »Lebensfassaden«?) der Familie Jansen.

Johanna Jansen, das alternde Familienoberhaupt, beschließt das Epizentrum der nahenden Eruptionen, die Ankergasse Nr. 10, zu verlassen, um ihren Lebensabend im Seniorenheim zu verbringen. Ein letztes Mal will sie ihre Familie an jenem Ort versammeln, der für so viele Jahrzehnte das Zuhause für Kinder und Enkelkinder war. Es sollte Johannas Tag werden, sie hat allerdings nicht mit den Katastrophen gerechnet, welche das schwere Unwetter düster ankündigte: Ihr Lebensgefährte, ein leidenschaftlicher Spieler und ein gerissenes Schlitzohr, verschwindet spurlos, Johannas ältester Sohn Helmut sieht sein Leben jäh durch eine mögliche Krebserkrankung bedroht, ihre Tochter Ulrike führt einen absurd-erbitterten Kampf um ihre Ehe und ihr psychisch kranker Sohn Konrad flieht erneut aus der Anstalt, angezogen von eben jenen düsteren Schwingungen, welche von der Ankergasse ausgehen.

Der Roman »Die Ängstlichen« des Journalisten Peter Henning ist ein Lehrstück über das Scheitern der bürgerlichen Familienkonstruktion. Ein Abgesang auf jene Werte, welche als Stützen unserer Gesellschaft gelten und sich in letzter Konsequenz nicht als massive Holzpfosten erweisen, sondern als fragiles Glasgestänge. Seine Protagonisten sind allesamt zerfressen von Neurosen und ihren eigenen Ängsten, schockstarr – nicht in der Lage, ihre Situationen zu akzeptieren und ebenso wenig fähig, etwas daran zu ändern. Jene Ängste sind dabei keine individuellen, sondern kollektive Ängste, welche gerade für uns Westeuropäer symptomatisch sind: Die Furcht davor, unsere Sicherheiten zu verlieren, unser Gewohntes aufgeben zu müssen, durch das Unerwartete – durch Tod, Krankheit oder Entscheidungen, auf welche wir keinen Einfluss haben. Anstatt sich diesen Ängsten zu stellen, verdrängen die Jansens jene Phantome, welche ihnen immer wieder auflauern: So sind die Ängstlichen immer auf der Flucht vor sich selbst, um jeden Preis bemüht, ihre Fassaden aufrecht zu erhalten.
So hatte er sich hin und wieder vorgestellt, wie alles gekommen wäre, wenn er nicht krank geworden wäre: Er wäre in das andere Leben eingestiegen, wie man in einen Zug einsteigt, der abfahrbereit auf der anderen Seite des Bahnsteigs stand. Irgendwann aber hatte er sich zum Trost gesagt, dass diese Zugfahrt womöglich die Hölle geworden wäre und das er von Glück sagen konnte, nicht eingestiegen zu sein. Trotzdem sah er sich immer wieder in diesem anderen Leben herumgehen wie in einer leeren, viel zu großen Wohnung, linkisch und fremd, sah sich verkrampft lächeln und hörte sich reden, wie man in der Vorstellung einen Zwillingsbruder, den man nie gehabt hatte, lächeln sah und reden hörte.
Hennings Erzählweise bleibt während dieser Schilderung des Scheiterns stets klar und kontrolliert. Er lässt sich nicht zu Pathos oder gar Kitsch hinreißen und ist aber gerade deshalb stets hoch poetisch. Trotz des mitunter nüchternen Realismus malt der Autor sensible Bilder des Innenlebens seiner Figuren. Hier und da ergeht er sich etwas zu leidenschaftlich in atmosphärischen Schilderungen, welche dieses ohnehin sehr umfangreiche Prosawerk (stolze 490 Seiten!) ein wenig in die Länge ziehen.

»Die Ängstlichen« gilt zu Recht als Hennings reifstes Werk - hoch gelobt für seinen präzisen Stil, seine allegorische Familiengeschichte des schleichenden Verfalls. Bei all diesen Vorzügen fällt es kaum auf, dass der Autor seine Geschichten im vierten Teil des Buches auf perfide Weise ad absurdum führt: Johannas Lebensgefährte inszeniert seinen eigenen Tod. Helmuts Sohn und dessen Freundin klauen neunzigtausend Euro von einer Bank. Und Rainer, Ulrikes Ehemann, verschanzt sich im Keller - eher bereit zu sterben, als sich mit seinen Lebensumständen auseinanderzusetzen. Nein – diese Handlungen sind längst nicht mehr brav-bürgerlich; sie sind allesamt verstörte Auswüchse von Kriminalität oder Wahnsinn.

Von Johannas' großem Tag bleibt nichts als Streit, Verzweiflung und Resignation – zuletzt resigniert auch sie. Henning verweigert jede Hoffnung auf vermeintliche Erlösung. Sie würden bleiben, so heißt es am Ende des Romans, was sie immer gewesen sind: Ängstliche, die vor allem eines gelernt haben: Durchhalten, Aufrechterhalten, Haltung bewahren – um jeden Preis.

Rezension von Philipp Amelungsen

Die Ängstlichen

507 Seiten, € 11,99, Taschenbuch
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746626819

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Die Ängstlichen

Auf dem fünftgrößten Planeten unseres Sonnensystems herrschten in diesem Tagen Missstand und Furcht. Die Sonne, dieser bislang verlässliche, in 50 Millionen Kilometern Entfernung strahlende Begleiter, war im Begriff auszukühlen.
Genauso wie das Zusammentreffen einer Kalt- und Warmluftfront über der hessischen Kleinstadt Hanau zu einem meteorologischen Kollaps führt und sich in Form von starkem Regen, Blitz und Donner sowie orkanartigen Windstößen über das Land ergießt, kollabieren auch die bisher beschaulichen Lebensrealitäten (oder sollte man sagen »Lebensfassaden«?) der Familie Jansen.

Johanna Jansen, das alternde Familienoberhaupt, beschließt das Epizentrum der nahenden Eruptionen, die Ankergasse Nr. 10, zu verlassen, um ihren Lebensabend im Seniorenheim zu verbringen. Ein letztes Mal will sie ihre Familie an jenem Ort versammeln, der für so viele Jahrzehnte das Zuhause für Kinder und Enkelkinder war. Es sollte Johannas Tag werden, sie hat allerdings nicht mit den Katastrophen gerechnet, welche das schwere Unwetter düster ankündigte: Ihr Lebensgefährte, ein leidenschaftlicher Spieler und ein gerissenes Schlitzohr, verschwindet spurlos, Johannas ältester Sohn Helmut sieht sein Leben jäh durch eine mögliche Krebserkrankung bedroht, ihre Tochter Ulrike führt einen absurd-erbitterten Kampf um ihre Ehe und ihr psychisch kranker Sohn Konrad flieht erneut aus der Anstalt, angezogen von eben jenen düsteren Schwingungen, welche von der Ankergasse ausgehen.

Der Roman »Die Ängstlichen« des Journalisten Peter Henning ist ein Lehrstück über das Scheitern der bürgerlichen Familienkonstruktion. Ein Abgesang auf jene Werte, welche als Stützen unserer Gesellschaft gelten und sich in letzter Konsequenz nicht als massive Holzpfosten erweisen, sondern als fragiles Glasgestänge. Seine Protagonisten sind allesamt zerfressen von Neurosen und ihren eigenen Ängsten, schockstarr – nicht in der Lage, ihre Situationen zu akzeptieren und ebenso wenig fähig, etwas daran zu ändern. Jene Ängste sind dabei keine individuellen, sondern kollektive Ängste, welche gerade für uns Westeuropäer symptomatisch sind: Die Furcht davor, unsere Sicherheiten zu verlieren, unser Gewohntes aufgeben zu müssen, durch das Unerwartete – durch Tod, Krankheit oder Entscheidungen, auf welche wir keinen Einfluss haben. Anstatt sich diesen Ängsten zu stellen, verdrängen die Jansens jene Phantome, welche ihnen immer wieder auflauern: So sind die Ängstlichen immer auf der Flucht vor sich selbst, um jeden Preis bemüht, ihre Fassaden aufrecht zu erhalten.
So hatte er sich hin und wieder vorgestellt, wie alles gekommen wäre, wenn er nicht krank geworden wäre: Er wäre in das andere Leben eingestiegen, wie man in einen Zug einsteigt, der abfahrbereit auf der anderen Seite des Bahnsteigs stand. Irgendwann aber hatte er sich zum Trost gesagt, dass diese Zugfahrt womöglich die Hölle geworden wäre und das er von Glück sagen konnte, nicht eingestiegen zu sein. Trotzdem sah er sich immer wieder in diesem anderen Leben herumgehen wie in einer leeren, viel zu großen Wohnung, linkisch und fremd, sah sich verkrampft lächeln und hörte sich reden, wie man in der Vorstellung einen Zwillingsbruder, den man nie gehabt hatte, lächeln sah und reden hörte.
Hennings Erzählweise bleibt während dieser Schilderung des Scheiterns stets klar und kontrolliert. Er lässt sich nicht zu Pathos oder gar Kitsch hinreißen und ist aber gerade deshalb stets hoch poetisch. Trotz des mitunter nüchternen Realismus malt der Autor sensible Bilder des Innenlebens seiner Figuren. Hier und da ergeht er sich etwas zu leidenschaftlich in atmosphärischen Schilderungen, welche dieses ohnehin sehr umfangreiche Prosawerk (stolze 490 Seiten!) ein wenig in die Länge ziehen.

»Die Ängstlichen« gilt zu Recht als Hennings reifstes Werk - hoch gelobt für seinen präzisen Stil, seine allegorische Familiengeschichte des schleichenden Verfalls. Bei all diesen Vorzügen fällt es kaum auf, dass der Autor seine Geschichten im vierten Teil des Buches auf perfide Weise ad absurdum führt: Johannas Lebensgefährte inszeniert seinen eigenen Tod. Helmuts Sohn und dessen Freundin klauen neunzigtausend Euro von einer Bank. Und Rainer, Ulrikes Ehemann, verschanzt sich im Keller - eher bereit zu sterben, als sich mit seinen Lebensumständen auseinanderzusetzen. Nein – diese Handlungen sind längst nicht mehr brav-bürgerlich; sie sind allesamt verstörte Auswüchse von Kriminalität oder Wahnsinn.

Von Johannas' großem Tag bleibt nichts als Streit, Verzweiflung und Resignation – zuletzt resigniert auch sie. Henning verweigert jede Hoffnung auf vermeintliche Erlösung. Sie würden bleiben, so heißt es am Ende des Romans, was sie immer gewesen sind: Ängstliche, die vor allem eines gelernt haben: Durchhalten, Aufrechterhalten, Haltung bewahren – um jeden Preis.

Rezension von Philipp Amelungsen

Die Ängstlichen

507 Seiten, € 11,99, Taschenbuch
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746626819

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