Das Regenorchester

Zwei Wochen und vier Tage nachdem mich meine Frau verlassen hatte, lernte ich Niamh kennen. Niamh stand mitten auf der Straße und rauchte. Sie trug ein abgeschlossenes, zitronengelbes Kleid, Gummisandalen, von denen die Farbe abging, und einen Strohhut.
Schertenleibs Buch »Das Regenorchester« ist ein wunderbarer Roman über einen Mann, den seine Frau nach vielen Jahren verlassen hat. Man mag sich nun fragen: Was ist daran wunderbar? Allein die Tatsache, dass er verlassen worden ist, ist nicht schön. Und es drängt sich auch unwillkürlich die Vorstellung auf, dass es hier um einen selbstmitleidigen Mann gehen könnte, der sich in seiner Wohnung einigelt und so einige Jahre seines Lebens verbringt. Zugegeben, ein etwas langweiliges Bild.

Das, was uns Schertenleib bietet, ist aber eine gänzlich andere Lösung dieser Thematik. Eine, mit der man sich anfreunden kann und die man sogar lieben wird. Eine, die jedem, der sie liest und auf sich wirken lässt, Hoffnung machen wird, denn in jeder Zeile des Buches steckt eine Botschaft: Man kann immer neu beginnen. Man muss nur den Mut dazu haben, nach vorne zu sehen. »Das Regenorchester« zeichnet einen Prozess der Selbstfindung auf, des Nachdenkens über die eigene, neue Situation und es zeigt, wie man wieder mit sich selbst zurechtkommt – ohne kitschig zu werden.
Ich kam mir so vor, als hätte ich jahrelang fremde Schuhe getragen, nun hatte ich plötzlich die eigenen an, und sie drückten nicht.
Eine große Rolle spielt dabei Niamh, eine alte irische Frau, die die Hauptfigur Sean gleich am Anfang der Geschichte kennenlernt und bis ans Ende ihres Lebens begleiten wird. Sie erzählt ihm ihre Lebensgeschichte, die er zu Papier bringen soll, denn er ist Schriftsteller. Und sie weiß, dass sie sterben wird.

Niamh hilft Sean durch ihre Geschichte über seine eigene hinweg. Sie gibt ihm eine Aufgabe in dieser für ihn schwierigen Zeit: sich um sie zu kümmern, sie zu pflegen, aber vor allem ihr zuzuhören. Sie hat sich diesen Mann, den sie eigentlich gar nicht kennt, ausgesucht, um ihm alles zu hinterlassen, was sie besitzt: ihr Leben. Sie weiß, sie beide verbindet etwas. Es sind zwei Menschen, die von ihrer großen Liebe verlassen worden sind. Niamh musste von vorne anfangen, Sean steht vor dem Neubeginn. Er ist kurz davor, muss sich dessen nur noch bewusst werden; einen Weg finden, der den Neuanfang möglich macht. Niamhs Geschichte zeigt, dass es geht. Dass man auch nach so einem Bruch in seinem Leben wieder mit sich selbst ins Reine kommen kann. Vielleicht gerade durch so ein Erlebnis.
Ich habe mir nie ein anderes Leben gewünscht oder vorgestellt. Sich ein anderes Leben zu wünschen bedeutet doch, dass man ein anderer Mensch sein möchte. Dass man andere Dinge wissen möchte, als die, die man weiß. Und auch, dass man andere Dinge vergessen möchte als die, die man eben nicht vergessen kann. Und das ist doch eine unerträgliche Vorstellung, nicht? Bin ich zufrieden mit dem Leben, das ich hatte? Ja, das bin ich. Ich will mir das, was ich nicht vergessen kann, noch so lange wie möglich bewahren, immerhin macht es mich aus. Wer sich an nichts erinnert, hat nichts zu verzeihen. Ich will mein Leben kennen, nicht neu erfinden. Darum habe ich es dir erzählt, Sean.
Sean wird sie nicht aufschreiben, die Geschichte. Eines der Dinge, die er gelernt hat, ist, dass man Distanz wahren muss. Zu Menschen und Dingen, die zu groß sind für die eigenen Schultern. Und dass es Wichtigeres gibt, als die eigene Person. Das Regenorchester begleitet ihn in einen neuen Lebensabschnitt.

Das alles klingt sehr belehrend und erinnert an die Coelho'schen „Weisheiten“, die uns bei ihm öfter aufgedrängt werden, als wir es gerne hätten. Schertenleib aber fasst sie in einen Rahmen, der viel subtiler ist und nicht den Anspruch erhebt, jeden belehren zu wollen. Er tut es einfach, aus sich selbst heraus, ohne es zu wollen und ohne, dass der Leser es bemerkt. Das ist das Faszinierende an diesem Buch. Es erzählt die Geschichte einer alten Frau und damit zugleich die Veränderung, die in dem vorgeht, der sie hört. Bleibt nur noch zu hoffen, dass auch der Leser sich verändert und ein Stückchen von Niamhs Alterszufriedenheit auch in sich finden wird.

Rezension von Anne Seibt

Das Regenorchester

230 Seiten, € 9,99, broschiert / kartoniert
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746625713

→ Leseprobe

Das Regenorchester

Zwei Wochen und vier Tage nachdem mich meine Frau verlassen hatte, lernte ich Niamh kennen. Niamh stand mitten auf der Straße und rauchte. Sie trug ein abgeschlossenes, zitronengelbes Kleid, Gummisandalen, von denen die Farbe abging, und einen Strohhut.
Schertenleibs Buch »Das Regenorchester« ist ein wunderbarer Roman über einen Mann, den seine Frau nach vielen Jahren verlassen hat. Man mag sich nun fragen: Was ist daran wunderbar? Allein die Tatsache, dass er verlassen worden ist, ist nicht schön. Und es drängt sich auch unwillkürlich die Vorstellung auf, dass es hier um einen selbstmitleidigen Mann gehen könnte, der sich in seiner Wohnung einigelt und so einige Jahre seines Lebens verbringt. Zugegeben, ein etwas langweiliges Bild.

Das, was uns Schertenleib bietet, ist aber eine gänzlich andere Lösung dieser Thematik. Eine, mit der man sich anfreunden kann und die man sogar lieben wird. Eine, die jedem, der sie liest und auf sich wirken lässt, Hoffnung machen wird, denn in jeder Zeile des Buches steckt eine Botschaft: Man kann immer neu beginnen. Man muss nur den Mut dazu haben, nach vorne zu sehen. »Das Regenorchester« zeichnet einen Prozess der Selbstfindung auf, des Nachdenkens über die eigene, neue Situation und es zeigt, wie man wieder mit sich selbst zurechtkommt – ohne kitschig zu werden.
Ich kam mir so vor, als hätte ich jahrelang fremde Schuhe getragen, nun hatte ich plötzlich die eigenen an, und sie drückten nicht.
Eine große Rolle spielt dabei Niamh, eine alte irische Frau, die die Hauptfigur Sean gleich am Anfang der Geschichte kennenlernt und bis ans Ende ihres Lebens begleiten wird. Sie erzählt ihm ihre Lebensgeschichte, die er zu Papier bringen soll, denn er ist Schriftsteller. Und sie weiß, dass sie sterben wird.

Niamh hilft Sean durch ihre Geschichte über seine eigene hinweg. Sie gibt ihm eine Aufgabe in dieser für ihn schwierigen Zeit: sich um sie zu kümmern, sie zu pflegen, aber vor allem ihr zuzuhören. Sie hat sich diesen Mann, den sie eigentlich gar nicht kennt, ausgesucht, um ihm alles zu hinterlassen, was sie besitzt: ihr Leben. Sie weiß, sie beide verbindet etwas. Es sind zwei Menschen, die von ihrer großen Liebe verlassen worden sind. Niamh musste von vorne anfangen, Sean steht vor dem Neubeginn. Er ist kurz davor, muss sich dessen nur noch bewusst werden; einen Weg finden, der den Neuanfang möglich macht. Niamhs Geschichte zeigt, dass es geht. Dass man auch nach so einem Bruch in seinem Leben wieder mit sich selbst ins Reine kommen kann. Vielleicht gerade durch so ein Erlebnis.
Ich habe mir nie ein anderes Leben gewünscht oder vorgestellt. Sich ein anderes Leben zu wünschen bedeutet doch, dass man ein anderer Mensch sein möchte. Dass man andere Dinge wissen möchte, als die, die man weiß. Und auch, dass man andere Dinge vergessen möchte als die, die man eben nicht vergessen kann. Und das ist doch eine unerträgliche Vorstellung, nicht? Bin ich zufrieden mit dem Leben, das ich hatte? Ja, das bin ich. Ich will mir das, was ich nicht vergessen kann, noch so lange wie möglich bewahren, immerhin macht es mich aus. Wer sich an nichts erinnert, hat nichts zu verzeihen. Ich will mein Leben kennen, nicht neu erfinden. Darum habe ich es dir erzählt, Sean.
Sean wird sie nicht aufschreiben, die Geschichte. Eines der Dinge, die er gelernt hat, ist, dass man Distanz wahren muss. Zu Menschen und Dingen, die zu groß sind für die eigenen Schultern. Und dass es Wichtigeres gibt, als die eigene Person. Das Regenorchester begleitet ihn in einen neuen Lebensabschnitt.

Das alles klingt sehr belehrend und erinnert an die Coelho'schen „Weisheiten“, die uns bei ihm öfter aufgedrängt werden, als wir es gerne hätten. Schertenleib aber fasst sie in einen Rahmen, der viel subtiler ist und nicht den Anspruch erhebt, jeden belehren zu wollen. Er tut es einfach, aus sich selbst heraus, ohne es zu wollen und ohne, dass der Leser es bemerkt. Das ist das Faszinierende an diesem Buch. Es erzählt die Geschichte einer alten Frau und damit zugleich die Veränderung, die in dem vorgeht, der sie hört. Bleibt nur noch zu hoffen, dass auch der Leser sich verändert und ein Stückchen von Niamhs Alterszufriedenheit auch in sich finden wird.

Rezension von Anne Seibt

Das Regenorchester

230 Seiten, € 9,99, broschiert / kartoniert
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746625713

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Rezensiert von Gast