Schneekreuzer

Durch das unendliche Weiß eines ewigen Winters rollt ein Zug über den vereisten Planeten, ein Zug, der niemals anhält ...
Das ist der Schneekreuzer mit seinen tausend Wagen.
Er ist die letzte Zuflucht der Zivilisation.
Wir sind in der Zukunft, und wieder einmal geht es der Menschheit dreckig. Dieses Mal ist die gesamte Erde auf Grund eines Unfalls oder dank einer Waffe - darüber darf herzlichst gestritten werden - zu Eis gefroren. Unsere Welt ist fast vollkommen leblos - mit Ausnahme einer kleinen Bastion, die sich »Schneekreuzer« nennt. Einst gebaut als reine Unterhaltung für die paar Personen, die schon alles erlebt haben, sollte der vollkommen autarke Zug erquickliche Kreuzfahrten durch pittoresk-verschneite Gebiete ermöglichen, doch nach Einbruch der ewigen Kälte mausert er sich schnell zur letzten Hoffnung unserer untergehenden Zivilisation - dazu verdammt, sich für alle Zeiten durch das endlose Weiß zu schlängeln.

Unsere Geschichte beginnt mit einem sensationellen Ausbruch: Ein Mann, den wir nur als »Proloff« kennen lernen werden, entflieht in einem Akt von Wahnsinn und purer Verzweiflung den letzten Waggons des Schneekreuzers, auch als »dritte Klasse« oder noch weitaus liebevoller schlicht als »Arsch« bezeichnet. Das schlägt Wellen, wurden diese Abteile doch schon vor Jahren vom Rest des Zuges abgeschottet. Und so darf - oder muss, je nachdem - sich unsere Hauptfigur auf eine Reise bis in die noblen vorderen Wagen machen, um dort den Mächtigen des Schneekreuzers Rapport über die Verhältnisse in seiner verhassten Heimat zu erstatten. Dabei trifft er, zwangsweise in Begleitung einer hübschen wie naiven Bürgerrechtlerin, auf verschiedenste Arten der Nahrungsgewinnung (nein, Menschenfleisch steht nicht auf der Karte, aber die »Mama« ist auch viel faszinierender), auf einen Kult, der die Lokomotive anbetet (aber was will man dort auch sonst anbeten?), auf immer weiter zunehmenden Luxus und letzen Endes wird er auch ebenjene heilige Loko selbst betreten. Und den Mann kennenlernen, der sie steuert. Wir sind tief in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts, damals, als Dystopien noch richtigen Biss hatten: Jacques Lob, der sich schon einen Namen unter den französischen Comic-Autoren gemacht hatte, tat sich mit dem nur halb so alten Zeichner Jean-Marc Rochette zusammen, um eine herrlich düstere Geschichte über eine Zivilisation am Rand des Untergangs zu erzählen. Dabei gelingt ihm eine wunderbar kaputte Hauptfigur, die in zahlreiche faszinierende und kreative Situationen stolpert. Sehr schön zum Beispiel ist die oben bereits erwähnte »Mama«, eine riesige fleischartige Masse in einer Spezialflüssigkeit, die als quasi unerschöpfliche Nahrungsquelle dient, da jedes herausgeschnittene Stück wieder nachwachsen kann. Gleichzeitig scheint diese Masse unter den Klingen zurückweichen zu wollen, so als wäre sie entgegen aller Theorie empfindungsfähig. Oder ist dies nur die Wahrnehmung unserer Passanten? Ein tolles, kraftvolles Bild, das Lob da entworfen hat!
Im Vorübergehen enthüllt uns Lob außerdem eine sehr schön glaubwürdige Dystopie mit einem zwar oftmals unverhohlenem Zynismus, aber nie mit moralinsauer erhobenem Zeigefinger und mit nur sehr sparsam verwendeten Klischees. Passend dazu ist Hauptfigur Proloff im Charakter etwas schwer zu greifen - weder ist er ein klassischer Held, noch wird er zu deutlich als Antiheld charakterisiert, sondern driftet eher in die Richtung desinteressierter Normalo, der einfach nur raus will. Sprachlich wechselt Lob dabei immer wieder vom bittersüßen poetischen Tonfall seiner Erzähltexte in die passend ruppige Sprache der Dialoge. Und spätestens das Ende seiner kleinen Parabel sucht in seiner beeindruckenden Konsequenz und Poesie seinesgleichen. Etwas schade ist nur die deutlich spürbare Jugend des Zeichners Rochette, der die Geschichte zwar schön in Schwarz- und Grautöne gekleidet umsetzen konnte, aber dabei doch ein wenig zu simpel blieb und nur wenige Bilder schaffen konnte, die einem wirklich im Gedächtnis haften bleiben. Außerdem unterlaufen ihm bei der Mimik der Figuren oftmals echte Schnitzer - mal sind die Ausdrücke fast schon grimassenhaft übertrieben, mal passen sie kaum zum Gesagten. Das stört den Lesefluss dann doch an vielen Stellen. Ein geübterer Zeichner wäre hier wünschenswert gewesen.

Immerhin, dass Rochette weiter an sich gearbeitet hat, konnte er mit zwei Folgebänden beweisen, die fast zwei Dekaden nach der ersten Geschichte veröffentlicht wurden. Leider ist der Eindruck hier fast umgekehrt: Die Zeichnungen sind toll, statt simpler Bilder in Grautönen erwarten einen nun sehr schön tuschelastige Zeichnungen, die eindrucksvoll die Entwicklung des Zeichners aufzeigen. Nur ist die Handlung, nach dem frühen Tod Lobs nun aus der Feder des Autoren Benjamin Legrand stammend, weitaus gewöhnlicher und hinterlässt viel weniger Eindruck. Das beginnt mit dem mit viel mehr technischen Firlefanz ausgestatteten neuen Zug, der durch seine pure Existenz schon die Schlagkraft der ersten Geschichte schmälert. Außerdem weist die Geschichte nun zwar einiges mehr an Action, aber auch Unmengen an Klischees auf. Dadurch büßt sie natürlich deutlich an Kraft ein, auch weil die verwendeten Szenarien fortgeschrittenen Science-Fiction-Fans oftmals bekannt vorkommen dürften. Betrachtet er die »Schneekreuzer«-Geschichten zusammen, so kommt dem Verfasser dieser Rezension schnell der Wunsch auf, Rochette hätte einfach die vorhandene erste Geschichte noch einmal bebildert, statt neue Geschichten erzählen zu lassen, die in ihrer Gewöhnlichkeit dazu verdammt sind, im Schatten des Vorgängers zu bleiben. Trotzdem bieten alle drei Geschichten zusammen natürlich eine empfehlenswerte Menge an sowohl sprachlich-erzählerischer als auch optischer Strahlkraft.

Schneekreuzer

253 Seiten, € 29,00, broschiert / kartoniert
Jacoby & Stuart, ISBN 978-3942787086
Edmund Jacoby

Rezensiert von Martin Katzorreck