Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht

Immer noch hing das Schild der alten Computerfirma über dem Laden. Und Boris schaltete weiterhin jeden Abend die fünf kleinen Halogenleuchten an, die an den langen, über dem Laden angebrachten Metallstäben vor der Häuserwand befestigt waren und das ganz in Schwarzweiß gehaltene, wetterfeste Schild wie einen Hauptdarsteller beleuchteten.
Boris Moser, Inhaber einer Agentur für verworfene Ideen und damit nicht sonderlich erfolgreich, bekommt eines schönen Tages zwischen Ladenaufschließen und Kaffeekochen einen Anruf. Rebecca Kron hatte, in der irrigen Annahme die Telefonnummer sei noch aktuell, Kontakt mit dem Computerladen aufnehmen wollen, der bis vor Kurzem noch Mieter des Ladenlokals gewesen war. Rebecca ist schön, kultiviert (sie hält ihm einen nicht unarroganten Vortrag über die richtige Zubereitung von Tee) und bereit sich länger als eine halbe Stunde mit ihm zu unterhalten. Grund genug für Boris von ihr hingerissen zu sein. Umso besser, da sie ihn etwas schräg findet (und sie wird es nicht müde das zu wiederholen). Nun hat sie Boris am Apparat (später auch vor Augen) und es entwickelt sich ein Gespräch, in dem sie ihn über seine ungewöhnliche Geschäftsidee ausfragt. Was denn diese Agentur der verworfenen Ideen genau wäre, will sie wissen, und er erklärt ihr, dass er Ideenansätze sammelt, die andere nicht zuende gebracht haben, um vielleicht einige davon später zu etwas Sinnvollem zu verknüpfen. Nur Romananfänge könne er nicht brauchen, davon habe er selbst genug.
„Romananfänge nehme ich nicht mehr. Romananfänge wären das Alan Parsons Project meiner Branche, wenn es meine Branche gäbe. (...) In jedem echten Plattenladen wird man das Gesamtwerk von Alan Parsons Project finden. Es gibt fast nie etwas von Velvet Underground und nur die schlechten Platten von Aretha Franklin. Aber Alan Parsons Project gibt es immer kistenweise.“
„Kein schlechter Anfang.“, denkt sich der Leser, „So eine Agentur für verworfene Ideen ist tatsächlich etwas verschroben.“. Das möchte man meinen, doch dann kommt die fatale Wendung, die Jakob Heins Buch das Genick bricht und es zum bedeutungslosen Plätschern verkommen lässt: Er schreibt Boris' eigenen Romananfang auf. Nicht eingebettet und unterbrochen in und von der Ursprungsgeschichte, sondern völlig eigenständig. Und nicht nur das, nein, nach wenigen Seiten beginnt auch der in besagtem Romananfang auftauchende Schriftsteller seiner Sekretärin eine Geschichte zu diktieren, die wiederum losgelöst vom Rest in Heins Buch steht.
Ein Roman im Roman im Roman. Auf Seite 100 angekommen bricht sich der Gedanke Bahn, den man schon die ganze Zeit im Anschlag gehabt hatte: „Meint der das ernst? Auf mageren 192 Seiten dreimal eine neue Geschichte anfangen?“ Diese Idee wäre an und für sich vielleicht nicht einmal schlecht gewesen, doch die Plots sind im Besten falle lau und die Sprache nicht mehr als nett.
„Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht“ von Jakob Hein hatte bereits die Koffer gepackt, als ich noch las, rauschte mit der letzten Seite zur Tür meines Gedächtnisses hinaus und hinterließ nicht einmal schmutzige Fußabdrücke, über die man sich ereifern könnte. Es ist kein Buch, das Begeisterungsstürme hervorruft, stilistisch nicht sonderlich innovativ, obwohl es sich um einen Schachtelroman handelt, aber wiederum auch nicht so schlecht, dass man sich stundenlang darüber das Maul zerreißen könnte. Zu Zeiten von Buchtausch- und Gebrauchtbuchbörsen war ich letzten Endes doch ziemlich froh es recht bald wieder in Umlauf bringen zu können, auch wenn ich es abschließend mit einem völlig unenthusiastischen „Muss man wirklich nicht gelesen haben.“ bewerten muss. Um es mit Boris Mosers eigenen Worten zu sagen.
Denn nichts wird uns so häufig angeboten, wie Romananfänge, und mit nichts können wir weniger anfangen.

Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht

176 Seiten, € 8,95, broschiert / kartoniert
Piper, ISBN 978-3492258845

Rezensiert von Juliane Kopietz