Smith & Wesson
WESSON (der Mann auf dem Bett) Wer ist da?Die Niagarafälle – unzählige Künstler hat dieser mystische Ort mit seiner naturgewaltigen Schönheit schon inspiriert. So nun auch den italienischen Geschichtenkünstler Alessandro Baricco, der sich nach ‹Novacento› und ‹Oceano Mare› erneut für ein Gewässer als Schauplatz seines zauberhaften Realismus entschieden hat. Eher zufällig lernen sich die beiden Herren Smith und Wesson 1902 in einer einfachen Baracke am Rande der Niagarafälle kennen, in einem wilden, aber würdevollen Durcheinander. Der eine lebt schon immer hier und kennt das Gewässer wie seine eigene Westentasche – man nennt ihn den ‹Fischer›, denn seinen Lebensunterhalt verdient er damit, Leichen aus dem Wasser zu ziehen; und wenn grad niemand zu retten ist, verhökert er Souvenirs an Touristen. Der andere sammelt historische Aufzeichnungen über das Wetter und will anhand dieser zusammengetragenen Erinnerungen angeblich Rückschlüsse darüber ziehen können, wie das Wetter wird. Außerdem ist er Erfinder und wird in mehreren Staaten wegen Betruges gesucht.
SMITH (von draußen) Mrs. Higgins oben im Hotel hat mir von Ihnen erzählt. Sie sagt, ich könnte Sie besuchen.
WESSON Mrs. Higgins ist eine Nutte!
21. Juni 1887Nach kurzer Zeit gesellt sich Rachel zu ihnen, eine junge Reporterin, deren große Laufbahn als Journalistin bei einem Provinzblatt aber noch nicht so recht ins Rollen gekommen ist. Um das zu ändern, hat Rachel ihrem Chefredakteur eine ganz besondere Story versprochen: Sie will sich in einem Fass die Niagarafälle hinabstürzen – und natürlich will sie überleben. Und da dieses Unterfangen ohne Hilfe nicht zu bewerkstelligen ist, kommen ihr die beiden Herren Smith & Wesson gerade recht.
Mrs. Derby, achtundachtzig, schenkt mir ihr Tagebuch, aus dem ich auf das Wetter am Tag ihrer Hochzeit schließen kann: strömender Regen. Ich schließe auch auf das Wetter an sieben anderen Tagen. Wie ich feststelle, hat Mrs. Derby in ihrem langen Leben im Grunde nur drei Dinge geliebt, Pferderennen, Apfeltorte und den Mann ihrer Schwester.
RACHEL Bevor ich Sie kennen lernte, dachte ich, Sie seien hergekommen, um allem ein Ende zu setzen, aber jetzt weiß ich, dass Sie wahrscheinlich nur einen Moment lang daran gedacht haben, sich die Wasserfälle hinter zu stürzen. Sie lieben das Leben zu sehr, stimmt’s?Während bisherige Romane vor allem von der Lust am Erzählen leben, geht Alessandro Baricco mit ‹Smith & Wesson› einen etwas anderen Weg: Zum einen ist diese Erzählung gerade einmal nur etwas mehr als hundert Seiten stark, und zum anderen ist es genau genommen auch gar keine Erzählung, sondern ein Theatertext. Und genau dieses Format offenbart nur umso deutlicher einmal mehr Bariccos große Stärke, seine Figuren durch direkte Rede zu charakterisieren. Ohne sich mit langatmigen Erklärungen aufzuhalten, haucht er seinem Charakteren allein durch ihre Sprache Leben ein. Die Dialoge sind erfrischend kurzweilig und pointiert; darin steckt so viel leiser Witz, Lebendigkeit und Drive, dass das Drumherum dabei fast zur Nebensache wird. Bariccos unbändige Freude am Erzählen ist regelrecht ansteckend – dabei beherrscht er die leisen Töne ebenso wie das Laute und Vulgäre. Und das einzig Negative, was sich über ‹Smith & Wesson› sagen lässt, ist daher ganz folgerichtig: Schade, dass es so kurz ist!
SMITH Ich halte das Leben für einen peinlichen Umstand, der allerdings unvergleichliche Befriedigungen bereithalten kann.
WESSON Ihre Vorstellung von Spannung ist einer, der sich beim Rasieren in ein Muttermal schneidet!
SMITH Weil auf ihn geschossen wird!
WESSON Aber es wird acht Seiten vorher auf ihn geschossen!
SMITH Weil von weitem auf ihn geschossen wird!
Smith & Wesson
112 Seiten, € 18,00, Taschenbuch
Hoffmann und Campe, ISBN 978-3455405774
aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
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Hoffmann und Campe, ISBN 978-3455405774
aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
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Rezensiert von Alexander Schau
Alex lebt schon eine Weile nicht mehr in Leipzig, liebt aber immer noch Ebooks und liest eigenen Angaben zufolge durchschnittlich 6,73 Bücher pro Monat. Paulo Coelho findet er immer noch widerlich, daran hat auch der Umzug nichts geändert.