Der Mann mit der Ledertasche

Dies ist ein Roman. Er ist niemandem gewidmet.
Henry Chinaski lebt sein Leben nicht, sein Leben lebt ihn. Irgendwie kommt er zurecht, zwischen durchzechten Nächten und verschlafenen Tagen, gemeinsam in einer kleinen Wohnung mit beliebigen alkoholisierten Mädchen und beliebigen alkoholischen Getränken. Bis er sich eines Morgens denkt Vielleicht schreibe ich einen Roman. Und er tut es. Charles Bukowski wurde in Deutschland geboren und ist in Los Angeles aufgewachsen. 1971 erschien sein erster Roman, Der Mann mit der Ledertasche.
Henry Chinaski ist Charles Bukowski, oder anders herum, oder beides.

So unkonventionell das Leben des Protagonisten auch ist, man kann sich einer schmunzelnden Sympathie für den vom Unglück verfolgten Henry nicht erwehren. Und je tiefer man hineingezogen wird in das Leben des versoffenen Briefträgers, desto klarer sieht man, was Henry, oder Charles, damals beobachtet hat. In schnörkellos frischen Sätzen beschreibt der scheinbar verbrauchte Postbote die kleinen alltäglichen Außergewöhnlichkeiten um sich herum, ganz ohne politischen Zeigefinger oder offensichtlich gesellschaftskritische Attitüde. Er beschreibt ein exzessives Leben, gefangen zwischen Rausch und Ernüchterung.

Schonungslos ehrliche Schilderungen eines verkorksten Daseins, wobei man ab den ersten Zeilen den Eindruck nicht mehr los wird, es mit einem herausragenden Beobachter seiner Umwelt zu tun zu haben. Der Autor nimmt sich und seinen Protagonisten nicht so wichtig, er hebt ihn nicht auf ein Podest. Er will einfach nur erzählen, und diese Einfachheit lässt den Leser nicht mehr los. Wenn Henry Arschloch meint oder Hure, dann sagt er das, genau so. Dann merkt man, ganz tief drinnen, wie man sich stört an dieser Ausdrucksweise. Und dann, ganz unaufhaltsam, beginnt man sich an sich selbst zu stören. An der eigenen Verklemmtheit. Nach der Hälfte des Buches hört man sich zu Freunden sagen „Ich geh kacken.“, bevor man den Raum Richtung Toilette verlässt. Das ist der Zeitpunkt, zu dem man merkt, wie sehr dieses Buch einen mitreißt. Der Moment, in dem man nicht mehr aufhören will zu lesen, wenn man immer schneller die Seiten umblättert und man von wilder Aufregung ergriffen wird, weil wieder Sätze großgeschrieben sind. Und das bedeutet, dass Henry sich aufregt. Und das sind die besten Sätze.
WAS HAST DU DENN GEGEN ARSCHLÖCHER, BABY? DU HAST EIN ARSCHLOCH, ICH HAB EIN ARSCHLOCH! DU GEHST IN DEN LADEN UND KAUFST EIN STEAK, DAS AUCH MAL EIN ARSCHLOCH HATTE! ARSCHLÖCHER BEDECKEN DIE GANZE ERDE!
Eine Geschichte voll von unfreiwilligen Weisheiten am Rande des Lebens. Aber, darf man Henry gut finden, einen Mann der sich und sein Leben so offensichtlich nicht im Griff hat? Einen Mann der, vorsichtig ausgedrückt, nicht sehr höflich mit seinen Frauen umspringt. Einen Mann, der das Wort Verwarnung öfter zu hören bekommt als den eigenen Namen? Ich denke, man darf durchaus. Man sollte sogar, denn würde jeder seinen inneren Henry akzeptieren, gäbe es wohl noch einige gute Geschichten auf dieser Welt, mehr Ehrlichkeit, und viel weniger Heuchelei.

Der Mann mit der Ledertasche

208 Seiten, € 10,00, Taschenbuch
Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3462034301
aus dem Englischen von Hans Hermann

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Rezensiert von Linn Micklitz