Nordlicht

Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihr ins Schloss. Sie hängte den Mantel umständlich an den Garderobenständer, hielt mitten ihrer Bewegung inne, unschlüssig, ob sie zuerst die Stiefel ausziehen oder die Tasche auspacken sollte.
„Nordlicht“ von Melitta Breznik ist ein Roman, der sich sehr intensiv mit der Geschichte von zwei Frauen und deren Vätern befasst – und daher auch sehr komplex ist, denn die Biografie von vier Menschen auf gerade einmal 250 Seiten zu bannen, ist wohl kein allzu leichtes Vorhaben, vor allem, wenn zwei dieser Menschen zu NS-Zeiten gelebt haben und somit auch noch dieses schwierige Thema angesprochen werden muss. Also kein einfaches Unterfangen.

Der steirischen Autorin gelingt es, diese Themenvielfalt unter einen Hut zu bringen, indem sie sie in Tagebucheinträge verpackt, die auch größere Zeitsprünge zulassen zwischen der Kindheit der zwei Frauen und der Gegenwart, in der sie versuchen, nachzuvollziehen, wer ihre Väter waren. Die eine, Anna, heute Ärztin und mit diesem Job und ihrer Beziehung offensichtlich überfordert, macht sich auf nach Norwegen, wo ihr Vater im zweiten Weltkrieg stationiert gewesen ist. Sie nistet sich in einer abgeschiedenen Hütte ein, mitten in der lebensfeindlichen Wildnis Norwegens – und in der Dunkelzeit.

Dort kann sie sich vom Stress der letzten Zeit erholen, vom Arztdasein und auch von ihrer kaputten Beziehung, aus der sie regelrecht geflüchtet ist. Sie kommt dort langsam zur Ruhe, mit sich selbst ins Reine und hat nun die Chance ihre Vergangenheit zu bewältigen, an einem Ort, wo sie ihr gegenwärtiger ist als jemals zuvor. Sie verbringt sehr viel Zeit allein und in der freien Natur und sie spricht mit einigen Menschen, die ihren Vater kannten oder die Vorfahren haben, die ihn gekannt haben. Sie liest seine Tagebücher und folgt seinen Spuren.
Vater ist mir im Moment sehr gegenwärtig. In früheren Jahren wollte ich mich nicht mit ihm beschäftigen, weil ich die Zurückgezogenheit und die Ablehnung, uns Kindern in seinem Leben einen Platz zu geben, wie einen tiefen Vorwurf in den Knochen stecken hatte.
Annas Geschichte ist die einer Frau, die aus einem kaputten, sie krank machenden Leben in ein anderes Land, in die Einsamkeit flüchtet und dort ihr Heil findet. Sie lernt nach einiger Zeit ihre Freundin Giske kennen, die ein ähnliches Problem wie Anna hat: Sie kennt ihren Vater nicht, hat nicht einmal Fotos oder Tagebücher von ihm und auch sie versucht, herauszufinden, wer er gewesen ist. Dabei erinnert sie sich an ihre sehr schwierige Kindheit und die schlechte Behandlung im Kinderheim, die sie erfuhr, weil sie die Tochter einer Norwegerin und eines deutschen Soldaten war.
Einmal, nachdem ich mich heftig der Zwangsfütterung widersetzt hatte, war ich von einigen Pflegerinnen ausgezogen worden bis auf die Unterhose. Ich musste die ganze Nacht, obwohl mir kalt war, ohne Decke, ans Bett gefesselt, verbringen. Dieser Pfleger hatte Nachtdienst, und nachdem sie mir ein Beruhigungsmittel verabreicht hatten, erwachte ich erst am nächsten Morgen. Ich war am Bauch und an der Scham mit Kratzspuren übersät, die ich mir nicht erklären konnte.
Auch Giske schafft es in diesem Roman, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen und herauszufinden, wer ihr Vater gewesen ist. Die Biografien der beiden Väter der Frauen überschneiden sich sogar.

„Nordlicht“ gehört sicher zu den besseren Büchern österreichischer Literatur. Auch wenn es nicht so spannend ist, dass man das Buch an einem Stück auslesen möchte, ist es doch interessant und durchaus informativ, was das Verhältnis der Norweger zu den Deutschen im zweiten Weltkrieg und auch danach angeht. Man kann spüren, dass die Autorin hier ausgiebig recherchiert haben muss, dies dennoch nicht auf allzu anstrengende Art und Weise unter Beweis zu stellen versucht. Wer also nach intellektueller, aber nicht allzu mühsamer Literatur sucht, ist mit „Nordlicht“ bestens beraten.

Nordlicht

256 Seiten, € 9,99, Taschenbuch
btb, ISBN 978-3442741403

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Rezensiert von Alexander Schau