Nichts als Gespenster

Ruth sagte "Versprich mir, dass du niemals etwas mit ihm anfangen wirst". Ich erinnere mich, wie sie aussah dabei.
Die Kritik schien sich einig zu sein, dass der vorliegende Band an ihr Erstlingswerk »Sommerhaus, später« nicht heranreiche. Die Erzählungen haben an Länge gewonnen, aber etwas wirklich Neues habe Judith Hermann damit nicht geschaffen, sondern sich wohl vielmehr auf ihr Hausrezept verlassen: Melancholie und Antriebslosigkeit. Das aber sei eindeutig zu wenig, und vor allem nicht überraschend.

Mich persönlich haben die sieben in diesem Buch versammelten Erzählungen gefesselt. Und nicht nur das: Sie haben mich bis ins Tiefste hinein bewegt, und zwar so sehr, wie es bisher kaum ein anderes Buch geschafft hat. Ich habe fast geweint, aber nicht vor Traurigkeit, sondern vor Sehnsucht nach den Menschen in diesen Geschichten. Ich wollte sie an den Schultern packen und durchschütteln, ihnen gut zureden und ihnen versichern, dass das Leben nicht so grau ist, wie sie es sehen – und ich wollte gleichzeitig mit ihnen tauschen und das, was die Autorin beschreibt, selbst erleben, meist nur Kleinigkeiten, aber von einer zwischenmenschlichen Wucht, die mich begeistert hat.
Es gab nichts. Es gab kein Wort, das zwischen uns hätte stehen können, kein Schweigen und keine Vertrautheit, noch nicht einmal ein Entsetzen über den anderen, auch meine Angst war weg, meine Vorstellung, all die Bilder [...], keine einzige Bewegung rührte mich mehr. Ein großer, schwerer Mensch, der durch ein Zimmer geht, in dem eine Lampe einen goldenen Lichtkegel über den Holztisch wirft. Die Zigarette schmeckte rauh und bitter und schön. Ich trank meinen Wein und goss mir immer wieder nach, und er setzte sich noch kurz zu mir an den Tisch und redete was, und dann sagte er »Gehen wir schlafen«.
Judith Hermanns Erzählungen holen sich ihre Energie aus den Orten, an denen sie spielen: Venedig, Prag, Norwegen oder Island. Die Figuren suchen insgeheim nach ihrer Freiheit und sind doch nichts weiter als Gefangene ihres eigenen Lebens. Alles, was sie tun, bringt sie keinen Schritt voran, alles ist Stagnation und was einzig und allein zählt, sind die Momente, denen sie sich hingeben. Es sind romantische Geschichten um eine Liebe, die sich nicht entwickeln kann, weil sie keinen Boden hat; und trotzdem sind diese Menschen nicht unglücklich, das wäre zu vereinfacht gesagt. Sie sind wohl irgendwie zufrieden, für sie zählen andere Dinge als die Erfüllung ihrer Träume. Die Feuer lodern, die Gräben zwischen ihnen und ihren Mitmenschen reißen weiter und weiter auf – und sie machen sich darüber keine Sorgen mehr. Es ist, als hätten sie vollständig kapituliert, weil sie nicht mehr mitkommen mit diesem großen Mysterium, das man »Leben« nennt.

Das alles stimmt einen nachdenklich, weil man nicht weiß, ob man sich freuen soll für die Charaktere oder ob sie Mitleid verdient haben. Nichts ist gut und nichts ist schlecht, alles spielt sich vielmehr in der großen Grauzone dazwischen ab, und das ist es, was mich an diesen Geschichten so beeindruckt. Die Sprache der Autorin trägt ihr Übriges zu diesem Zauber bei, denn sie lässt dem Leser nur selten die Möglichkeit offen, sich gedanklich auszuklinken. Die Worte treiben regelrecht, und gleichzeitig tun sie fast so, als änderte sich rein gar nichts. Hermanns Sätze sind bestechend kühl oder verlieren sich schier, da fällt am Ende immer noch ein letztes Wort über Bord und bringt die ganzen Zeilen ins Wanken. Für mich zeugt dieser Stil von einer beachtlichen sprachlichen Raffinesse, andere werden dieses Buch sicher schnell wieder aus der Hand legen, ganz einfach, weil es sie langweilt. Vielleicht muss man sich auf all die leisen Töne einlassen, um die Geschichten schätzen zu lernen. Es lohnt sich sehr.

Nichts als Gespenster

320 Seiten, € 8,95, broschiert / kartoniert
Fischer, ISBN 978-3596157983

Rezensiert von Alexander Schau