Accabadora

Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai.
Und sie kümmerte sich rührend um das Kind: Hatte ihre Mutter sie bis dahin höchstens als ein weiteres Maul betrachtet, das es zu stopfen gilt, so gab Bonaria Maria nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch eine neue und bessere Kindheit. Im Haus der Schneiderin drehte sich plötzlich alles um Maria, sie wurde beachtet und umsorgt, und es gab kaum etwas, das Bonaria ihr verweigert hätte.
Erst sehr viel später sollte Maria langsam erfahren, dass die Frau, die ihr eine neue Mutter geworden war, auch eine dunkle Seite hatte. Maria hatte zwar schon früh etwas gespürt, aber nie etwas gewusst. Bonaria hatte ihr nie von ihren nächtlichen Ausflügen berichtet, und Maria ahnte, dass sie auch nicht danach fragen durfte.
Als sie mit dem Alten allein war, musterte sie ihn. Die weit aufgerissenen Augen des Tziu Jusepi Vargiu waren leblos, wie tot. Bonaria nahm seine fleischlose Hand und tastete vorsichtig den Puls und seinen Unterarm ab, und irgendetwas an dieser Berührung ließ ihn zusammenfahren. Ein heiserer Ton entfuhr seiner Kehle. »Am Ende haben sie dich also gerufen ...«
Bonaria ist so etwas wie die Totenfrau des Dorfes, seine Accabadora. Nachts besucht sie die Sterbenden an ihren Betten und hilft ihnen über die Schwelle zum Tod hinweg. Jeder im Dorf weiß von Bonarias Rolle, nur Maria nicht. Und als ein Freund der Familie durch einen Unfall so schwer verletzt wird, dass ein Weiterleben für ihn zur Zumutung zu werden droht, bittet auch er die Accabadora darum, ihm das Leben zu nehmen. Maria kann und will das Tun ihrer Ziehmutter nicht verstehen. In ihren Augen ist sie eine Mörderin, und so verlässt sie das Dorf. Sie geht weg von dieser Frau, der sie viele Jahre lang wie keinem anderen Menschen vertraut und deren Geheimnis sie so schrecklich enttäuscht hat.
Es gibt Gedanken, die, wie die Augen der Eule, das Tageslicht scheuen.
Wunderschön ist dieser Roman, der von der großen Graufläche zwischen Leben und Tod erzählt und einer Ethik, die nicht einfach so rational zu begrenzen ist. Seine Sprache ist leicht und unbefangen, sie erzählt soviel und lässt gleichzeitig vieles im Dunkeln. Da bilden sich immer wieder neue Fragen im Kopf, die aber bis zum Schluss unausgesprochen bleiben. Michela Murgia schafft herrliche Stimmungen, mal wunderbar idylisch, mal fürchterlich düster. Diese Gegensätze tragen ganz stark zu der Kraft dieses Romans bei, und ihr gelingt eben auch das Kunststück etwas zu erzählen, ohne davon zu schreiben.

Die Geschichte hat ihre Längen, mir persönlich hat die »erwachsene« Maria, nachdem sie das Dorf verlassen hat, nicht gefallen. Dieser Episode hätte es nicht unbedingt bedurft, da tritt die Geschichte dann etwas auf der Stelle und droht zu zerlaufen; aber Maria kehrt schließlich noch einmal zurück, als Bonaria im Sterben liegt, und diese Rückkehr ist wieder so selbstlos und voller Hingabe, so einfühlend geschrieben, dass man dann am Ende fast zu früh auf der letzten Seite angelangt ist. Weil man noch so gern immer weiter gelesen hätte.

Accabadora

176 Seiten, € 17,90, Taschenbuch
Wagenbach, ISBN 9783803132260
aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Rezensiert von Alexander Schau