Auerhaus

von Bov Bjerg
Vera leuchtete runter. Auf den Stufen lag Frieder.
Ich: »Weint er?«
Vera: »Er lacht.«
Frieder lag auf dem Rücken, den Kopf treppauf. Unter der Bommelmütze kniff er die Augen zusammen. Er kicherte: »Ich hab´s gemacht! Ich hab´s gemacht!«
Ich stieg über ihn rüber, nach unten. Aus den Sohlen seiner Stiefel bröckelte der Schnee. Unten an der Treppe lag die Axt.
Was zunächst Mord und Totschlag suggeriert, entpuppt sich als eine humorvolle und gleichzeitig tragische Geschichte. Vier Abiturienten eines Gymnasiums mit dem bezeichnenden Namen Am Stadtrand beziehen in den 80er Jahren in einem Dorf in der Nähe von Stuttgart ein leerstehendes Haus. Der Ich-Erzähler Höppner hat Schwierigkeiten, sein Abitur zu bestehen und will sich vor der Musterung drücken. Cäcilia hingegen stammt aus reichem Elternhaus und wird ein sehr gutes Abiturzeugnis bekommen. Vera ist eigentlich Höppners Freundin, aber die beiden sehen ihre Beziehung nicht so eng, vor allem sie. Sie verbringt die Silvesternacht mit Harry, der später als fünfter Mitbewohner in das Auerhaus einzieht. Dabei ist Harry schwul und geht anschaffen. Axel wird der sechste im Bunde, er besitzt ein Auto mit Zentralverriegelung. Doch der eigentliche Mittelpunkt des Hauses und Romans ist Frieder, der nach einem Selbstmordversuch wegen seiner Depression in der Klapse gelandet war und durch die Schulfreunde aufgefangen werden muss. Alleine oder mit seiner Familie würde er zugrunde gehen; das Auerhaus ist der gemeinschaftliche Versuch, ihm ein trautes Heim zu bieten, das er in seiner Kindheit nicht hatte.
Aus der Ferne war das Auerhaus ein altes Bauernhaus wie die anderen.
Ein Ziegeldach mit Moosflecken, eine Fassade aus weißen Eternitplatten.
Erst wenn man näher kam, stach ein kleiner rosa Fleck ins Auge, ein Fleck direkt neben der Haustür.
Das war der Briefkasten. Harry hatte ihn rosa angestrichen.
Viel Geld steht den jungen Bewohnern nicht zur Verfügung. Und so klauen sie sich Lebensmittel, die sie für den täglichen Bedarf benötigen, und nennen es umsonst bekommen. Ihre lockere Wohngemeinschaft kommt nicht ohne Spannungen aus, doch ist ein erneuter Suizidversuch Frieders das größte Unheil, das alle anderen Probleme relativiert. Bis zum Abitur leben die sechs Bewohner des Hauses mit der offenen Tür für jeden Besuch ein Jahr lang friedlich vor sich hin und werden erwachsener, ohne es richtig zu realisieren. Sie lernen ihre soziale Verantwortung kennen und kommen mit Gesetzen in Konflikt. Der Kälte der Gesellschaft, die immer wieder in kleinen Momenten zu ihnen durchscheint, können sie durch ihre Gemeinschaft bannen. Sie erleben das Glück einer unbeschwerten Zeit, sie genießen ihr Leben und lassen beim Leser den Wunsch aufkommen, diese Zeit noch einmal erleben zu dürfen. Das Jahr, das sie gemeinsam bis zum Abitur dort verbringen, wird das beste ihres Lebens sein.

Bov Bjerg schreibt völlig unaufgeregt über eine kleine Gemeinschaft und ihre Entwicklung. Große Themen wie Tod und Sexualität werden eingearbeitet und unaufdringlich behandelt, dabei kommt der Humor nicht zu kurz. Eines Tages kommt z. B. die Polizei ins Auerhaus, um nach Drogen zu suchen.
Neben Harrys Bett lag ein Plastikbeutel mit Gras und Tabak und Blättchen. Der lag da immer. Um den zu finden, brauchte man keinen extra Drogenspürhund. Da hätte auch ein Mops mit Schnupfen gereicht.
Der Hund stupste den Beutel mit der Schnauze an. Er legte sich daneben. Er glotzte zum Beutel, zum Polizisten, wieder zum Beutel. Er winselte. Und dann passierte was total Gruseliges: Der Hund hob die Pfote. Er zeigte auf das Gras! Was für ein blöder Streberhund.
»Auerhaus« erinnert vom Sound her an Wolfgang Herrndorfs »Tschick« und muss den Vergleich mit dem großartigen Roman keineswegs scheuen. Grundlegende Fragen von Teenagern wie die Auslotung sexueller Beziehungen sind genauso Thema wie das Austarieren der eigenen Freiheit. Bjergs Humor ist fein und mit den ernsten Themen des Lebens verknüpft, doch das alles mit einer Leichtigkeit und Tiefe, dass die Schwere der Themen nicht zu spüren ist. Ein Buch, das trotz des Scheiterns der Wohngemeinschaft Mut macht und gute Laune verbreitet. Der überschwänglichen Kritik kann ich mich nur anschließen und eine echte Leseempfehlung aussprechen.

Auerhaus

von Bov Bjerg
235 Seiten, € 18,99, gebunden
Blumenbar, ISBN 978-3351050238

→ Leseprobe→ kaufen
Rezensiert von Dennis Gerstenberger