Im Frühling sterben

Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.
Der erste Satz des Romans umspannt die gesamte Geschichte. Der Protagonist Walter liegt Ende der 80er Jahre auf dem Sterbebett. Zeit seines Lebens hat er über seine Kriegserlebnisse geschwiegen, und Ralf Rothmann hat das Vakuum mit eben diesem Roman, mit einer fiktionalen Wahrheit gefüllt.
Nach wenigen Seiten wird man in den Norden Deutschlands in das Jahr 1945 versetzt, das Ende des Krieges ist spürbar und geistert durch die Köpfe der Menschen. Die 17jährigen Melker Walter und Fiete werden zwangsrekrutiert und nach drei Wochen Ausbildung als Staffelmänner der Waffen-SS in den Krieg nach Ungarn geschickt.
»Ist sowieso bald vorbei«, flüsterte er. »Die Amerikaner rücken immer weiter vor, und die Tommys sollen schon an der holländischen Grenze sein. Da kann man nur hoffen, dass sie schneller im Dorf sind als der Russe.« »Ach so«, sagte Frau Isbahner, nun wieder lächelnd. »Wer hört denn hier Feindsender? Gib nur acht, Junge, so ein Strick ist schnell geknüpft.«
Wir erfahren, wie es Walter ergeht, der als Fahrer hinter den Reihen mehr Glück hat als Fiete, der an die Front versetzt werden soll. Walter wird der Versorgungseinheit zugeteilt und ist nicht direkt in Kampfhandlungen verwickelt, doch erlebt er hautnah die Wirren des Kriegsendes, wo die meisten nur noch ihre eigene Haut retten wollen. Hier zeigt der Roman auf nüchterne Art die Brutalität des Krieges, die Schilderungen sind nichts für schwache Gemüter. Doch kann Rothmann sich der Gewaltspirale entziehen, weil er nicht dem Sensationalismus verfällt. Er wendet den Blick immer wieder von der Gewalt ab und kann sich hervorragend in die verschiedenen Standpunkte der Akteure hineindenken und ihre Positionen nachvollziehbar darstellen. Man begegnet jungen Soldaten, die nicht verheizt werden wollen, chancenlosen Müllern, sadistischen Rottenführern, überkorrekten Sturmbannführern und erlebt die permanente Bedrohung durch die Feldjäger. So wird der Roman, der einen von Beginn an fesselt, zu einem Denkmal für die Soldaten, die nicht nur Täter, sondern selbst auch Opfer der Kriegsmaschinerie wurden.
»Na, schau dir diese Landschaft an.« Fiete tunkte das Brot in den Muckefuck, zwinkerte ihm zu. »Sargholz bis zum Horizont.«
Rothmanns Stil ist plastisch, greifbar und drastisch, eine ideale Vorlage für einen Film, der auf den entscheidenden Moment zwischen Fiete und Walter abzielt: Fiete desertiert, wird gefasst und zum Tode durch Erschießen verurteilt. Und Walter ist unter den Kameraden, der auf Fiete schießen soll. An dieser Stelle vermischen sich die persönliche, emotionale Ebene mit der rationalen Ebene der Gehorsamkeit, Ehre und der abstrusen Idee des Endsieges. Rothmanns Stärke ist die Verdichtung dieser beiden Ebenen, an der Walter zugrunde geht und nur noch mit Schweigen reagieren kann.

Walter ist Rothmanns Vater, der ihm keine Geschichte erzählt hat über den Krieg, diese hat der Schriftsteller aus anderen Quellen gewonnen. Doch die zentrale Frage des Romans ist nicht, ob es Fiktion ist oder nicht, oder ob alle Details korrekt dargestellt sind. Sehr viel wichtiger ist die Darstellung der Bestialität der Menschen zu Kriegszeiten und der verzweifelte Versuch, sich dieser zu entziehen. Denn der Krieg kann nicht als Erklärung aller Schandtaten herhalten, sondern dient zur Verdeutlichung eines moralischen Dilemmas, an dem die meisten zerbrechen gehen. Und dieses Fanal tragen auch die Nachkommen in sich.

Im Frühling sterben

234 Seiten, € 19,95, gebunden
Suhrkamp, ISBN 978-3518424759

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Rezensiert von Dennis Gerstenberger