Ein Tag mit Herrn Jules

Die zeitlose halbe Stunde zwischen Erwachen und Aufstehen umhüllt Alice wie ein vertrautes Kleidungsstück. Sie hat das Gefühl, in einer Gebärmutter dahinzutreiben und einem neuen Tag entgegenzuschaukeln.
Jules hatet noch nie viel im Haushalt getan, erst recht nicht in der Küche; das Kochen war für ihn immer Aufgabe der Frau gewesen, und Alice hatte sich immer in diese Rolle gefügt, ohne Widerworte und eigentlich auch gern.
Mit seiner Pensionierung allerdings hat er sich ein kleines Stück verändert, hat das Frühstückmachen zu seiner Aufgabe erklärt, sich viel Mühe damit gegeben. Und seither wurde seine Frau täglich mit dem Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee geweckt.

So ist es auch an diesem Morgen, einem Tag im Winter. Draußen schneit es, und doch ist irgendetwas anders als sonst. Als Alice ins Wohnzimmer kommt, findet sie ihren Mann tot vor, auf dem Sofa sitzend. Ein letztes Mal noch hatte er das allmorgendliche Ritual durchgeführt und seiner Frau Kaffee gekocht.

Alice braucht nicht lange, um sich an die neue Situation zu gewöhnen, sie tut dies vielmehr mit einer wunderbaren Art von Lakonie. Sie zieht ihm seine Pantoffeln an, bringt ihm ein letztes Mal die Zeitung, sucht ein letztes Mal seine Nähe und seine Wärme, die mit jeder Minute weiter aus dem leblosen Körper weicht. Und vor allem spricht sie mit ihm, lässt ihn zum Beispiel wissen, dass sie immer um das große Geheimnis seines Fremdgehens wusste, dass sie es all die Jahre über für sich behalten hatte.
Die Zeit verstrich. Zeitlos. Alice stand auf und lugte durch die Vorhänge. Es schneite wieder. Langsam herabfallende Flocken überzogen die Außenwelt mit einer dicken Schicht Weiß. Vor ihren Augen wirbelte es. Sie sah keinen einzigen Autoscheinwerfer in den ausgestorbenen Straßen, kein Mensch, keine Bewegung holte die Welt aus ihrem Winterschlaf. Das war das perfekte Dekor für einen Abschied, wurde ihr bewusst. Nicht auszudenken, Jules wäre an einem strahlenden Sommertag gegangen, und sie säße hier mit ihm, die Luft voll Grillgerüchen und übermütigem Stimmengewirr.
Alice ist stark, sie ist ungewöhnlich gefasst, und sie verbringt noch einen allerletzten Tag mit ihrem geliebten Mann. Den Arzt oder ihren Sohn anzurufen, traut sie sich nicht, aus Angst, diese Menschen könnten die letzte Ruhe, ihre gemeinsamen Abschiedsstunden, aus dem Gleichgewicht bringen.
Und so erinnert sie sich, hängt ihren Gedanken nach, überlegt, wie ihr Leben von nun an wohl aussehen wird, allein. Sie tut das ohne Verbitterung - dazu gibt es keinen Grund, sie wird nicht sentimental, verfällt nicht in Selbstmitleid; Diane Broeckhoven schildert diese ungewöhnlichen letzten Stunden einer Frau so wunderbar unsentimental und vorsichtig, dass einem beim Lesen regelrecht das Herz aufgeht. So viele winzige, liebenswürdige Details präsentiert sie dem Leser, dass man nach den leider nur knapp hundert Seiten regelrecht traurig ist, dass die Geschichte zu Ende ist und man nichts mehr über diese Menschen erfahren wird, die einem in so kurzer Zeit so sehr ans Herz gewachsen sind.

»Ein Tag mit Herrn Jules« ist ein beinahe hermetisch abgeriegelter Mikrokosmos menschlicher Nüchternheit, der anrührend, aber niemals auch nur ansatzweise kitschig ist, wohl nicht einmal romantisch - vielmehr eine Momentaufnahme, die eindringlich beweist, dass Liebe eines ist, nämlich wunderbar.

Ein Tag mit Herrn Jules

96 Seiten, € 6,99, Taschenbuch
Rowohlt, ISBN 978-3499241550
aus dem Niederländischen von Isabel Hessel

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Rezensiert von Alexander Schau