Die Stunde zwischen Hund und Wolf

Ich bin nichts, nicht als ein heller Umriss, an diesem Morgen, auf dem schmalen Korridor zwischen Becken und Glasfront des Schwimmbads, die x-fache Spiegelung eines vor Jahren beendeten Lebens, die schamlose Kopie eines ersten Satzes.
Frankfurt: Die Ich-Erzählerin trifft nach Jahren ihre Schwester wieder, der sie kaum noch etwas zu sagen hat. Die beiden Frauen haben sich auseinandergelebt, und die Erzählerin kann Ines gar nicht schnell genug wieder loswerden. Die beiden sind sich fremd, nichts verbindet sie mehr miteinander.

Langsam, ganz langsam nähern sich die beiden Schwestern einander wieder an. Während die Erzählerin starke Zweifel und Vorbehalte gegenüber dieser Wendung hegt. Ist Ines ehrlich froh darüber – und schnell wird auch klar, wieso: Ines hatte sich als Malerin einen Namen gemacht, hat sich inzwischen aber völlig an den Alkohol verloren. Sie trinkt nicht des Geschmackes wegen, sondern aus Verzweiflung und Angst. Sie braucht Hilfe, und diese Hilfe hofft sie in Gestalt ihrer Schwester zu finden.
Jetzt ist es gut, sagte Ines. Noch ein Schluck, wieder dieser Satz: Jetzt ist es gut.
Eingangs wirkt das alles einigermaßen banal, doch der anfängliche Scheint trügt den Leser ordentlich. Schnell entwickelt sich dieser Roman zu einem unheimlich starken Familienportrait, das trotz der ernsten Thematik erfrischend unpsychologisch bleibt. Die innere Beziehung der beiden Schwestern gewinnt immer mehr an Stärke und Verbundenheit, je mehr sich die beiden äußerlich voneinander entfernen; als die Erzählerin schließlich eine Affäre mit Ines’ Freund beginnt, reißt zwischen den Schwestern endgültig ein Knoten, der die Verbundenheit zwischen den beiden nur noch stärker macht.
Bereits als ich auf der Tanzfläche angekommen war, war alles glänzend und ewig, und ich hatte ein Gefühl, das so ähnlich war, als glaubte ich an Gott. Gold, soviel wusste ich sofort, Gold stand für das Fleisch der Götter, vor ihnen wanden die Menschen sich auf dem Boden, kriechende Würmer, die durch ihre Bewegungen um Gefallen heischen wollten, ich durfte die Füße nicht stillhalten, denn überall lagen diese kleinen Käfer [...].
Silke Scheuermann erzählt all das auf eine herrlich unaufgeregte Weise, sehr lakonisch und sachlich. Die Sprache wechselt fließend zwischen Großstadtpop und poetischer Melancholie. In „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“ gibt es keine Opfer und keine Schuld, es gibt nur Menschen, die sich ihren Problemen zu stellen versuchen, auch wenn sie den Glauben in die Welt verloren zu haben scheinen.

Mit Ines wird man als Leser bis zum Schluss nicht warm, und auch alle anderen Charaktere bleiben auf eine angenehme Weise unbekannt und konturlos. Silke Scheuermann schafft trotz der Nähe zu ihren Figuren gleichzeitig viel sprachliche Distanz, sie beobachtet in erster Linie nur und mischt sich nicht ein. Das tut der Geschichte enorm gut, und letztlich legt man das Buch beiseite und wünscht sich, man hätte dieser großartigen Erzählerin noch lange, lange weiter folgen dürfen.

Die Stunde zwischen Hund und Wolf

176 Seiten, € 8,99, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3895613715

→ Leseprobe→ kaufen
Rezensiert von Alexander Schau