Der Cellist von Sarajevo

Sie fauchte talwärts, spaltete mühelos Luft und Himmel. Ihr Ziel, durch Zeit und Geschwindigkeit näher gebracht, breitete sich aus. Einen Moment vor dem Aufschlag war zum letzten Mal alles so wie zuvor. Dann explodierte die sichtbare Welt.
Am 28. Mai 1992, kurz nach Beginn der Belagerung Sarajevos während des Bosnienkrieges, sterben bei einem Granatenangriff 22 Menschen. Obwohl Angriffe dieser Art in der besetzten Stadt an der Tagesordnung sind, stellt dieser doch eine Ausnahme dar: Er ist für den Cellisten Vedran Smajlović der Auslöser dafür, sich an den darauffolgenden 22 Tagen mit seinem Instrument auf die Straßen Sarajevos zu setzen und die Stadt in Gedenken an die Toten mit Musik zu füllen.

Der kanadische Autor Steven Galloway hat sich diese Kriegsepisode für seinen Roman zum Vorbild genommen und die Geschichte durch kleine Details angereichert. So ist zum Beispiel nicht bekannt, was genau Smajlović gespielt hat – bei Galloway ist es Albinonis Adagio in g-Moll, ein unglaublich wehmütiges und getragenes Stück Musik, das wie kaum ein anderes mit Trauer und Schmerz assoziiert wird. Auch lässt Galloway den Komponisten jeden Tag an derselben Stelle spielen, was für ihn zwar viele begeisterte Zuhörer bedeutet, ihn aber gleichzeitig auch zu einem leichten Ziel für die feindlichen Heckenschützen macht.
Er ist müde. Er hat die Welt satt, in der er lebt, eine Welt, die er nie wollte, mit deren Erschaffung er nichts zu tun hatte, und er wünscht sich, es gäbe sie nicht.
Der Cellist ist zwar Namensgeber für den Roman, tritt aber, nachdem er zu Beginn der Geschichte den Anschlag von seiner Wohnung aus beobachtet hat, nicht mehr als handelnde Figur auf. Galloway teilt sein Personal hingegen auf drei völlig andere Figuren auf, wourch es ihm mit Leichtigkeit gelingt, das Szenario aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und die Erzählperspektive so für den Leser interessant zu halten: Da ist beispielsweise Kenan, der sich alle paar Tage auf den gefährlichen Weg zur Brauerei macht, um dort Wasser für seine Familie zu holen, und dessen Weltbild letztlich aus den Fugen gerät, als er mitansehen muss, dass auf dem Schwarzmarkt selbst Wasser gehandelt wird; Strijela ist eine ungemein gute Schützin, deren Befehl lautet, für das Überleben des Cellisten zu sorgen, die sich aber gleichzeitig auch ihrem Befehl widersetzt, Unschuldige zu töten; schließlich ist da noch Dragan, der nur knapp einem Heckenschützen entgeht und stundenlang nicht den Mut aufbringt, die Straße zu überqueren.
Wenn man ins Freie geht, findet man sich damit ab, dass man womöglich getötet wird.
Galloway erzählt unaufgeregt und mit einer beeindruckenden Nüchternheit, wie man sie vielen anderen Büchern auch wünscht. Es geht ihm nicht darum, mit Effektworten Schreckensszenarien zu skizzieren oder möglichst großes Leid zu beschreiben – er konzentriert sich auf Details, auf die kleinen Dinge, die den Alltag der Menschen während der Belagerung so beschwerlich machen. Er schreibt präzise, aber selten zu konkret. Er lässt seinen Figuren ihre Geschichte und ihre Stimme, ohne sie zu bevormunden oder zu erklären.
Es ist eine große Freude, seinen Worten zu folgen.

Wie auch der echte Smajlović verliert der Cellist in Galloways Roman kein einziges Wort über seine Motive, und so bleibt es bis zum Ende und darüber hinaus einzig und allein dem Leser überlassen, über den inneren Antrieb nachzudenken. Auf diese Weise kann jeder für sich entscheiden, was die Gründe für dieses ungewöhnliche Verhalten sein mögen, und so liest womöglich jeder die Geschichte auf eine andere, persönliche Weise.
Man kann nicht mehr sagen, welche Version der Lüge die Wahrheit ist. Ist das wahre Sarajevo die Stadt, in der Menschen glücklich waren, einander gut behandelt, ohne Hass miteinander gelebt haben? Oder ist das wahre Sarajevo die Stadt, wie er sie heute sieht, in der die Menschen einander töten, wo Kugeln und Granaten von den bergen herabfliegen und die Häuser einstürzen?

Der Cellist von Sarajevo

240 Seiten, € 9,95,
btb, ISBN 978-3442738922
aus dem Englischen von Georg Schmidt

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Rezensiert von Alexander Schau