Die Stille in Prag

Ihre Körper berühren sich nicht. Sie liegen nebeneinander und blicken an die Decke. Hinter den Fenstern Prag, Stille und Dunkelheit. Petr steckt sich eine letzte Zigarette an.
Eine Stadt im Wandel: Das »goldene« Prag hat seinen feinen Zauber für die fünf Protagonisten so gut wie aufgebraucht. Es sind nur noch Bruchstücke, welche das Leben hier ausmachen. Für Petr ist es die Straßenbahnlinie 22, die er zusammen mit seiner Hündin Malmö durch die Stadt lenkt; für Hana sind es die seltenen Momente, in denen sie mit ihrer Weinschorle auf einer Bank sitzt und auf die Stadt hinabblickt.
Wegen der Touristen zerfällt Prag immer mehr. Es leert sich immer schneller. Was der Kommunismus und der Kapitalismus unberührt gelassen haben, wurde vom Massentourismus um die Ecke gebracht. Es fällt bloß keinem auf, weil es ohne Blutvergießen und ohne Folter stattfindet.
Alle sind sie im Aufbruch begriffen: Hana kehrt soeben von einer Dienstreise zurück und hat in Lissabon ihr Herz an ein Phantom verloren, das sie wohl nie wiedersehen wird. Dennoch ist diese Begegnung stark genug, dass sie noch im Flieger den Entschluss fasst, sich von ihrem Freund zu trennen. Sie fühlt nichts mehr, jedenfalls nicht für Wayne. Sie muss raus aus dieser Beziehung.
Wayne hingegen braucht Hana gerade mehr als je zuvor, um Herr über die Bilder von seinem toten Bruder zu werden, die er auf jedem Fernsehbildschirm zu sehen glaubt. Das erste Wiedersehen zwischen den beiden ist eine eisige Farce.

Jaroslav Rudiš beweist sich in »Die Stille in Prag« als ein schonungsloser Erzähler mit einem Händchen für Momentaufnahmen und Details. Die Bilder, die er beschreibt, sind wunderschön, oftmals hochpoetisch, aber gleichzeitig kühl und schmerzhaft rational. Während er die Dramaturgie dieser fünf Lebenswege Stück für Stück ineinander verzahnt, lässt er gleichzeitig ein Ideenfeuerwerk los, das mich schwer begeistert hat.
Besonders der so herrlich skurrile und gerade deshalb so ehrliche Vladimir hat es mir unheimlich angetan: Seit seine Frau vor einiger Zeit verstarb, plagt er sich mit Selbstmordgedanken und hat sich in seiner Wohnung verbarrikadiert. Mit einer Schere bewaffnet, stellt er sich tagtäglich dem Kampf gegen den Lärm der Welt. Sein Versuch, die Menschen wieder offen zu machen für die Stille ihres Lebens, ist so ambitioniert wie aussichtslos, wenn er durch die Straßen streift und Köpfhörerkabel zerschneidet oder Lautsprecher außer Gefecht setzt. Den einzig noch verbliebenen Sinn in seinem Leben hat er darin gefunden, die Geräusche aus der Stadt zu vertreiben, und sein unmöglicher Guerillakrieg führt ihn bis ans Äußerste.
Man sagt, Prag stinkt. Und das stimmt ja auch. Aber genau das gefällt Petr. Die Stadt stinkt dermaßen, dass er den Geruch schon wieder schön findet. Und das ist wirklich eine Leistung.
Unheimlich fesselnd ist die Mischung aus Großstadttrott und Schwermut, mit der Rudiš das alles erzählt. Alle sind sie auf ihre eigene Art Optimisten, und von außen betrachtet kann man über diese Selbsteinschätzung nur entrückt den Kopf schütteln. Alle haben sie ein Ziel vor Augen, auch wenn es kaum jemand von ihnen auch konkret benennen könnte.
Am Ende steht das Glück, bis dahin ist es ein langer Weg. Und man sieht ihnen gern dabei zu, wie sie diesen Weg auf sich nehmen, denn »Die Stille in Prag« ist voll von Bildern, Stimmungen und Gefühlen, dass einem das Herz weit aufgeht.

Die Stille in Prag

240 Seiten, € 16,99, Taschenbuch
btb, ISBN 978-3630873800
aus dem Tschechischen von Eva Profousová

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Rezensiert von Alexander Schau