Das Brot der frühen Jahre

Der Tag, an dem Hedwig kam, war ein Montag, und an diesem Montagmorgen, bevor meine Wirtin Vaters Brief unter die Tür schob, hätte ich mir am liebsten die Decke übers Gesicht gezogen, wie ich es früher oft tat, als ich noch im Lehrlingswohnheim wohnte.
Ohne seinen Ich-Erzähler, einen 23 Jahre alten Mann vorzustellen, wirft Heinrich Böll den Leser in das Leben dieses Charakters – hinein in einen Montag, an dem, abgesehen von einigen Rückblicken, die gesamte Erzählung spielt. Dieser Montag ist kein beliebiger Tag; es ist der Tag, an dem die junge und hübsche Hedwig in das Leben des Protagonisten tritt. Dieser Tag wird ein Wendepunkt in seinem Leben sein, einer der wenigen Punkte im Leben also, an denen sich der Lebensweg gabelt. Das Fatale an der Situation, in welcher der junge Fendrich steckt, ist nur, dass er von den Optionen, die er hat, nichts weiß. Er weiß nicht, welche Entscheidung zu welchem Ergebnis führen wird, und so lässt Böll seine Hauptfigur Fendrich sowie andere Charaktere wie seine Beinahe-Verlobte Ulla und die bereits erwähnte Hedwig zum Spielball dieses schicksalsträchtigen Montags werden.

Zwischen Hedwig und dem jungen Fendrich entspinnt sich eine Liebesgeschichte. Fendrich erblickt sie, und mit diesem einen Blick in das Gesicht dieser jungen Frau zerreißt die Welt, in der es sich der junge Fendrich bequem zu machen begann: All die Jahre zuvor als Lehrling im Betrieb, das Leben mit Ulla, das als sicher und gegeben schien - all das bedeutet ihm mit einem Schlag nichts mehr. Das, was ihn über sich hinauswachsen lässt, ist die Einsicht darüber, was ihn den Rest seines Lebens erwartet, würde er nicht nach Hedwig greifen und es nicht schaffen, ihre Liebe zu gewinnen. Hedwig wird zu seiner Obsession, denn er hat keine andere Wahl mehr: Entweder ein Leben mit ihr oder keines mehr!

Das Entscheidende und Spannende an Bölls Buch ist die Sprache, die er für diese Erzählung wählt. Das, was er erzählt, ist nicht sonderlich spektakulär; es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der in die Stadt kommt, eine Lehre abschließt, nach der entbehrungsreichen Nachkriegszeit zu relativem Wohlstand kommt und sich unsterblich verliebt. Das Geschehen selbst ist beinahe nebensächlich; wichtiger ist vielmehr, „wie“ es geschieht und die Sprache, in der Böll seinen Protagonisten Fendrich diesen Tag schildern lässt. Es ist die Sprache des Hungers. Jeder Satz nährt das flaue Gefühl in den Eingeweiden, das Knurren eines Tieres, das in der Magengrube lauert. Fendrich kennt dieses Tier in sich, denn dieses Tier ist der Hunger.
Ich habe den Preis für alle Dinge erfahren müssen – weil ich Ihn nie zahlen konnte-, als ich als 16jähriger Lehrling in die Stadt kam: der Hunger lehrte mich die Preise, der Gedanke an frisch gebackenes Brot machte mich ganz dumm im Kopf und ich streifte oft stundenlang abends durch die Stadt und dachte an nichts anderes als: Brot. Meine Augen brannten, meine Knie waren schwach und ich spürte, dass etwas Wölfisches in mir war. Βrot. Ich war brotsüchtig, wie man morphiumsüchtig ist …
Die Sprache des Hungers ist eine sehr reduzierte, sie macht den Blick scharf und das Herz kalt. Diese Kälte, diese Abgebrühtheit strahlt auch Fendrich aus. Der Hunger hat ihn vieles über die Menschen gelehrt. Vieles, das er nicht mehr vergisst und das ihn letztendlich zu einem Menschen werden lässt, der kompromisslos gegen sich und andere ist.
Gerade für uns Nachgeborene, für die Generation, die das Tier namens Hunger nie kennenlernen musste, ist dieses Buch besonders wertvoll. Böll braucht den erhobenen Zeigefinger nicht, er braucht keine Anklage und kein Moralisieren. Nein, Böll schreibt mit eindrucksvoller Klarheit aus dem Leben seiner Charaktere, er errichtet ein Mahnmal für das tägliche Brot, für das (Raub-)Tier namens Hunger und für die heilsame Kraft der Liebe. Dieses Meisterstück Böll’schen Realismus kitzelt beim Lesen etwas hervor, nämlich den Wunsch auf einen Laib frisch gebackenen Brotes, auf dessen Duft und Geschmack. Durch das Erwecken dieses im heutigen Überangebot und Überfluss scheinbar so simplen Verlangens relativiert dieses Buch unser heutiges Denken und Streben. Es wirft uns auf existenzielle Fragen des Lebens zurück. Es hat die Dringlichkeit von Sartres Existenzialismus, es lehrt uns den Hunger zu fürchten und zu achten!

Das Brot der frühen Jahre

108 Seiten, € 7,90, Taschenbuch
dtv, ISBN 978-3423013741

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Rezensiert von Matthias Hey