Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

Es gab sie wie Sand am Meer, sie waren überall und allgegenwärtig, die Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel; dann einzelne Dinge, verbogenes Besteck, braun be- ränderte Fäustlinge, Körner aus Winterstreugut, die in den flüssigen Schuhabdrücken auf dem Küchenfußbo- den schwimmen, ausgebrannte Telefonzellen, Büsche, die nach Urin riechen und trotzdem von Hunderten Spatzen bewohnt sind, die verblassenden Farben der eigenen Sommerkleidung im Untergangslicht eines Treppenhauses, in dessen schummrigen Halbstöcken kleine taufbeckenartige Vorrichtungen stehen, ohne ei- nen Hinweis auf Sinn und Zweck; die ganze entsetz- liche Melancholie und Verlorenheit eines Bahnsteigs, der Pendelblick nach links: Schienen, endlos, dann nach rechts: dasselbe, und der vergebliche Versuch, sich festzukrallen in den Rockfalten der Mutter angesichts dieser ausweglosen Unendlichkeit, die einem am nächsten Tag auf harmlosere Weise wieder begegnet, in der Schule, als Zahlenstrahl.
In den 18 Erzählungen herrschen das Skurrile, das Urkomische und nicht selten das Abgründige vor. Und immer das Originelle. So rekonstruiert der Autor auf vier Seiten »Das Gespräch der Eltern in Hänsel und Gretel« in jener Nacht, bevor sie im Märchen ihre Kinder im Wald aussetzen. In einer anderen Erzählung berichtet er in nahezu wissenschaftlicher Form, inklusive Fußnoten, aus dem schier unglaublichen Leben eines mysterienumwobenen Computerspieleentwicklers.

Die vielleicht stärkste Erzählung heißt passenderweise »Das Herzstück der Sammlung«. Sie zeigt am plastischsten, was eine Setz-Geschichte ausmacht: An der grundlegenden Situation – eine Frau besichtigt das Werkarchiv eines Schriftstellers – scheint alles unauffällig. Der junge Mann, dem das Archiv untersteht, verhält sich allerdings merkwürdig, bis die Besucherin ihn darauf hinweist, dass er ihr »nicht alles« gezeigt habe. Daraufhin begeben sich beide zu einer verschlossenen Tür, hinter der eine grunzende Gestalt mit greisenhafter Stimme in einem Gitterbett liegt. »Herr Setz«, sagt der Archivar zu der Gestalt, »ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir dann abschließen&Laquo;.

Manche Geschichten tangieren den Bereich des Unlesbaren. Clemens Setz gibt Passagen brutaler Gewalt und sadistischen sexuellen Missbrauchs derart nüchtern und lakonisch wieder, dass das Unbehagen beim Lesen nur umso größer wird. Hier frage ich mich dann: Muss das sein, braucht es diesen Text?; aber im gleichen Atemzug bewundere ich diese Schreibweise, die körperlich so erlebbar ist. Die Realität in Setz‘ Texten scheint immer wieder von merkwürdigen Begebenheiten und undefinierbaren äußeren Zwängen durchbrochen. Genau diese kleine Prise Phantastik ist es, die den Erzählungen ihre Unvorhersehbarkeit und spannende Unbestimmtheit verleiht. Und so etwas möchte ich noch viel häufiger lesen. Glücklicherweise machen Autoren wie Setz, Constantin Göttfert oder auch Daniel Kehlmann den magischen Realismus der südamerikanischen Literatur auch hierzulande immer mehr salonfähig.

Rezension von Anne Baldauf

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

349 Seiten, € 9,99, broschiert / kartoniert
Suhrkamp, ISBN 9783518463352

→ Leseprobe

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

Es gab sie wie Sand am Meer, sie waren überall und allgegenwärtig, die Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel; dann einzelne Dinge, verbogenes Besteck, braun be- ränderte Fäustlinge, Körner aus Winterstreugut, die in den flüssigen Schuhabdrücken auf dem Küchenfußbo- den schwimmen, ausgebrannte Telefonzellen, Büsche, die nach Urin riechen und trotzdem von Hunderten Spatzen bewohnt sind, die verblassenden Farben der eigenen Sommerkleidung im Untergangslicht eines Treppenhauses, in dessen schummrigen Halbstöcken kleine taufbeckenartige Vorrichtungen stehen, ohne ei- nen Hinweis auf Sinn und Zweck; die ganze entsetz- liche Melancholie und Verlorenheit eines Bahnsteigs, der Pendelblick nach links: Schienen, endlos, dann nach rechts: dasselbe, und der vergebliche Versuch, sich festzukrallen in den Rockfalten der Mutter angesichts dieser ausweglosen Unendlichkeit, die einem am nächsten Tag auf harmlosere Weise wieder begegnet, in der Schule, als Zahlenstrahl.
In den 18 Erzählungen herrschen das Skurrile, das Urkomische und nicht selten das Abgründige vor. Und immer das Originelle. So rekonstruiert der Autor auf vier Seiten »Das Gespräch der Eltern in Hänsel und Gretel« in jener Nacht, bevor sie im Märchen ihre Kinder im Wald aussetzen. In einer anderen Erzählung berichtet er in nahezu wissenschaftlicher Form, inklusive Fußnoten, aus dem schier unglaublichen Leben eines mysterienumwobenen Computerspieleentwicklers.

Die vielleicht stärkste Erzählung heißt passenderweise »Das Herzstück der Sammlung«. Sie zeigt am plastischsten, was eine Setz-Geschichte ausmacht: An der grundlegenden Situation – eine Frau besichtigt das Werkarchiv eines Schriftstellers – scheint alles unauffällig. Der junge Mann, dem das Archiv untersteht, verhält sich allerdings merkwürdig, bis die Besucherin ihn darauf hinweist, dass er ihr »nicht alles« gezeigt habe. Daraufhin begeben sich beide zu einer verschlossenen Tür, hinter der eine grunzende Gestalt mit greisenhafter Stimme in einem Gitterbett liegt. »Herr Setz«, sagt der Archivar zu der Gestalt, »ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir dann abschließen&Laquo;.

Manche Geschichten tangieren den Bereich des Unlesbaren. Clemens Setz gibt Passagen brutaler Gewalt und sadistischen sexuellen Missbrauchs derart nüchtern und lakonisch wieder, dass das Unbehagen beim Lesen nur umso größer wird. Hier frage ich mich dann: Muss das sein, braucht es diesen Text?; aber im gleichen Atemzug bewundere ich diese Schreibweise, die körperlich so erlebbar ist. Die Realität in Setz‘ Texten scheint immer wieder von merkwürdigen Begebenheiten und undefinierbaren äußeren Zwängen durchbrochen. Genau diese kleine Prise Phantastik ist es, die den Erzählungen ihre Unvorhersehbarkeit und spannende Unbestimmtheit verleiht. Und so etwas möchte ich noch viel häufiger lesen. Glücklicherweise machen Autoren wie Setz, Constantin Göttfert oder auch Daniel Kehlmann den magischen Realismus der südamerikanischen Literatur auch hierzulande immer mehr salonfähig.

Rezension von Anne Baldauf

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes

349 Seiten, € 9,99, broschiert / kartoniert
Suhrkamp, ISBN 9783518463352

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Rezensiert von Gast