Die Schneekönigin

Ein himmlisches Licht erschien Barret Meeks über dem Central Park, vier Tage nachdem die Liebe ihm wieder einmal übel mitgespielt hatte.
Hans Christian Andersens Märchen »Die Schneekönigin« ist nicht unbedingt sein bekanntestes: Darin zerbricht ein verzauberter Spiegel in tausend Scherben. Gelangt ein Splitter ins Auge, sieht der Mensch die Welt fortan böse und hässlich. Wen ein Splitter gar ins Herz trifft, der verliert seine Gefühle und wird kalt wie Eis.

Raus aus der Märchenwelt, rein ins richtige Leben: Bushwick, New York. Einer der heruntergekommeneren Stadtteile, dominiert von Lagerhallen und Fabrikruinen, Tristesse und Dämmerlicht. In einer Wohnung, die ihre besten Tage längst hinter sich hat, leben die Brüder Tyler und Barrett und warten darauf, dass sich ihre Träume erfüllen: Tyler träumt vom großen Durchbruch als Musiker, Barrett sehnt sich nach einem Freund, der ihn aufrichtig liebt und ihn ausnahmsweise mal nicht nach einigen Wochen per SMS abserviert. Beide sind längst nicht da angekommen, wo sie sich selbst gern sehen würden.
Diese Wohnung ist Rückzugsort vor der Welt und Krankenstatt zugleich: Tylers große Liebe Beth liegt dort im Sterben, unheilbar an Krebs erkrankt. Inmitten von zusammengekauftem Plunder und sonderlichen Fundstücken lassen sich die drei treiben: Allen voran Tyler, auf der verzweifelten und fast schon manischen Suche nach dem ultimativen Liebeslied, das er Beth auf der geplanten Hochzeit schenken will.

Dann, kurz vor Silvester, ein Lichtblick: Beth geht es merklich besser, der Krebs scheint sich zurückzuziehen. Man lädt Freunde zu sich ein und stößt auf das Leben an, darauf, dass es mit Beth wieder bergauf geht. Und kurz darauf meldet sich der Krebs mit voller Wucht zurück.
Ich glaube, die Leute machen sich zu viele Gedanken. Ich finde, wir sollten einfach drauflosleben und Fehler machen.
Wer jemals auch nur eine einzige Seite von Michael Cunningham gelesen hat, weiß, dass er es hier mit einem Meister der Charakterzeichnung zu tun hat. Ihre Kraft schöpfen die Romane nicht in erster Linie aus der Handlung, sondern aus ihren Figuren. Cunningham ist kein Erzähler im klassischen Sinn; er ist stiller Beobachter, und er ist das Sprachrohr seiner Charaktere, die sich im Laufe der Erzählung allein durch ihre Gedanken und Gefühle so enorm entwickeln und fassbar werden, dass man zwischendurch manchmal sprachlos dasitzt und ob der schieren Wortgewalt Cunninghams viele große Bauklötze staunt.
Dabei hält sich Michael Cunningham als Erzähler keineswegs zurück und legt seinen Figuren gern und oft Beobachtungen und Kommentare in den Mund. Er begegnet ihnen mit Ironie, ohne sie aber jemals bloßzustellen. Er erzählt größtenteils geradlinig und chronologisch, überspringt aber in seiner Schilderung immer wieder ganze Monate und walzt dafür die einzelnen Momente mit enormem Feingefühl aus.
Du brauchst niemals wichtiger zu sein als jetzt in diesem Moment.
Man muss Andersens titelgebendes Märchen nicht kennen, um sich von Michael Cunningham verzaubern zu lassen. Er spielt zwar mit einzelnen Motiven der Vorlage, abstrahiert und transportiert sie dadurch glaubhaft ins heutige New York; liest man »Die Schneekönigin« aber nicht nur als psychologische Großstadtbetrachtung, sondern eben auch als kleines, leises Märchen, entfaltet der Roman sein volles Potenzial und schwingt sich auf in lebens- und liebesbejahende Höhen. Great job, Mr Cunningham!

Die Schneekönigin

180 Seiten, € 21,99, gebunden
Luchterhand, ISBN 978-3630874586
aus dem Englischen von Eva Bonné

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Rezensiert von Alexander Schau