Der Dieb in der Nacht

Als es klingelt, hat sie bereits geschlafen. Sie setzt sich auf, sieht sich um; ein Teil von ihr hängt noch in einem Traum, der bereits in die Dunkelheit zurückfällt, aus der er zu ihr gekommen ist.
Zu Beginn steht die Frage, ob tatsächlich etwas lang Verschollenes wiedergefunden wurde, und sie wird bis zum Ende bestehen bleiben. Es geht um Felix, der mit 19 Jahren einfach verschwand und seine Mutter Agnes, seine Schwester Louise und seinen besten Freund Paul mit nichts als Fragen zurückließ. Vor allem Louise und Paul kommen von dem Verlust nie wirklich los, auch zehn Jahre später nagt er noch an ihnen. Dann trifft Paul plötzlich in Prag auf den Künstler Ira Blixen – und ist sich sicher, Felix vor sich zu haben, gerade weil Blixen ihm eigentlich null ähnelt, weil er nur in den Details als Felix überzeugt. Und weil Blixen ein Mysterium für sich ist, vor fünf Jahren ohne Gedächtnis aus der Moldau geborgen und seitdem ohne Hinweis auf sein früheres Leben. Und eines Tages steht jener Blixen vor Pauls Berliner Wohnung. Um mehr über seine Vergangenheit zu erfahren. Aber scheinbar auch, um in das Leben von Paul und Louise zu kriechen, sie mehr und mehr zu vereinnahmen, sie stellenweise sogar gegeneinander auszuspielen. Wer ist er nur, dieser Ira Blixen? Oder sollten wir (und Paul und Louise) uns lieber erstmal fragen, was er eigentlich ist?
Einige Jahre glaubte er, sich noch an Felix‘ Gesicht erinnern zu können – bis ihm auffiel, dass es nur ein bestimmter Ausdruck war, ein bestimmtes Lächeln, das er sich vor Augen führen konnte. Es war gar nicht der tatsächliche Felix, an den er sich erinnerte, sondern der Felix auf einem Foto, das in Agnes‘ Wohnzimmer hing. Wenn er das Foto nur bei sich hätte, wenn er es hervorziehen und prüfend neben Blixen halten könnte. Ist diese Nase Felix‘ Nase? Ist dieser Mund Felix‘ Mund?
Auf den ersten Blick ist die Geschichte ja recht simpel: Entweder Ira Blixen ist tatsächlich der verschollene Bruder und an seinem alten Leben berechtigterweise interessiert, oder er ist ein Hochstapler, der sich nur bei seinen neuen Opfern durchschnorren möchte. So weit, so Standard-Krimikost. Doch Katharina Hartwell macht es uns nicht so leicht mit Blixen, sie lässt ihn stets etwas übernatürlich wirken, inszeniert ihn wie einen Alp, der sich auf Louise und Paul niedergelassen hat, um nun von ihren Leben und ihrem Umfeld zu zehren. Dabei ist sie klug genug, ihr Rätsel bis zum Ende bestehen zu lassen, uns nie klar zu zeigen, ob es einfach Blixens Art oder schiere Berechnung ist, die seine beiden Wirte so vereinnahmt. Wobei es letztlich natürlich nicht nur Louise und Paul sind, die hier von Blixen nicht mehr loskommen – auch als Leser wird man sich seiner Faszination kaum erwehren können.
Es ist gefährlich, sich mit Blixen zu unterhalten; weil man ihn vergisst, weil man alleine in einem Keller steht, vor sich hin murmelt, die Geschichte bloß sich selbst, den Spinnen, den Kellerasseln erzählt. Er bringt einen dazu zu reden, indem er nichts tut, außer einen anzustupsen. Aber er sammelt ihre Worte, das hat sie bemerkt, sammelt sie, fängt sie auf und ein, verstaut sie. Wenn sie nur wüsste, was er mit ihnen vorhat. Genau hinschauen, ermahnt sich Agnes.
Dem Mysterium namens Ira Blixen gegenüber (oder doch entgegen?) stehen Paul und Louise, die wir mit ihrer gesamten Vergangenheit und all ihren Macken und Problemen kennen lernen werden. Hier wandelt sich »Der Dieb in der Nacht« zu einem Beziehungsdrama. Präzise zeichnet Katharina Hartwell ihre beiden Helden, gestaltet sie zu jeweils sehr zerbrechlich wirkenden, gerade im Vergleich zu Blixen nur allzu menschlichen Figuren. Beide haben mit Felix mehr verloren als nur ihren Bruder respektive Freund, für beide brach mit dem Verschwinden eine Welt zusammen. Wobei das natürlich grob vereinfacht ist – die Welt der beiden war vorher schon fragil genug.
Unseren zerbrechlichen Helden zur Seite steht Agnes, die Mutter von Louise und Felix (und fast so etwas wie die Ziehmutter von Paul). Sie ist ein Pol der Ruhe, studiert, organisiert, schwer zu beeindrucken. Aber auch kühl, distanziert und zu nur wenig Verständnis vor allem ihrer Tochter gegenüber fähig. Sie wird erst spät in der Geschichte auftauchen, sich aber mit Blixen ein faszinierendes Duell liefern, sodass auch ihr relativ kurzer Auftritt bleibenden Eindruck hinterlässt.
Louise bleibt in einer Pfütze stehen. Hunde können Angst riechen, das weiß jeder, auch Louise. Nur hat sie nie verstanden, was sie mit dem Wissen anfangen soll. Ein Geschöpf, das Angst riechen kann, dessen Angriff sich nur abwehren lässt, indem man ihn nicht fürchtet, so ein Geschöpf gehört nicht in die tatsächliche Welt, es gehört in Märchen, Legenden, auf fremde Planeten.
Man merkt es rasch: »Der Dieb in der Nacht« lebt von seinen Hauptfiguren. Auch die Handlung selbst wird getragen von Paul und Louise, ihrer Vergangenheit, ihrer Interaktion miteinander und vor allem natürlich von der Auseinandersetzung mit ihrem mysteriösen Gegenspieler. Erzählt wird die Geschichte dabei ruhig, abgesehen vom letzten Kapitel, welches ungemein rasch, ja fast schon abrupt zum Schluss kommt. Was rückblickend aber ein durchaus effektvoller und passender Bruch ist.
Die Sprache des Romans ist von wundervoller, einnehmender Klarheit. Katharina Hartwell beweist auch in ihrem zweiten Werk, dass sie ihr Handwerk meisterlich beherrscht. Kein Satz wirk überflüssig, keine Szene sinnfrei. War ihr Romandebüt »Das Fremde Meer« noch ein Ausbruch an durchkomponierter Fabulierfreude und soghafter Sprachgewalt, so kommt »Der Dieb in der Nacht« nun geradezu geerdet daher. Stilsicher und souverän balanciert Hartwell hier zwischen Horror und Drama und erzählt uns eine Familiengeschichte im Gewand einer Gothic Novel. Und hinterlässt den Leser am Ende wie schon nach ihrem Erstling mit nur einem wirklichen Problem: Wo bitte ist nun der nächste Hartwell-Roman?
Es gibt etwas Entsetzliches in der Welt; das Entsetzliche, so nennt Agnes es, und sie denkt an Freud, an ein kulturelles Konzept, etwas, worüber sie in ihren Seminaren sprechen und eine Prüfungsfrage stellen könnte. Gleichzeitig aber stellt sie sich ein Monster vor, einen Kraken, ein Geschöpf, das in den Tiefenschichten der Tage und Nächte hockt und bloß ab und an einen tastenden Tentakel zu ihnen heraufschickt. Damals, als Felix verschwunden war, glaubte Agnes verstanden zu haben, dass sich die Menschen in zwei Gruppen aufteilen ließen, jene, die nichts vom Entsetzlichen wussten, und jene, die sahen, dass man bloß durch eine Folie, einen dünnen Film von dem Entsetzlichen getrennt war; dass es sich teerig glitzernd durch die Risse und die Ritzen in das Leben schob.
PS: Dank des Berlin-Verlags gibt es übrigens noch einen kleinen Zusatzgrund, voller Spannung dem nächsten Werk von Frau Hartwell entgegenzuhibbeln, und dieser Grund ist buchbinderischer Natur. Wir erinnern uns: »Das Fremde Meer« war in schmuckem Babyblau gebunden. »Der Dieb in der Nacht« nun strahlt uns fast pink entgegen. Welche Farbe kann da noch kommen? Hoffen wir, dass Autorin und Verlag einander treu bleiben werden, dann bleibt es auch an dieser Front spannend!

Der Dieb in der Nacht

320 Seiten, € 10,00, Taschenbuch
berlin Verlag, ISBN 978-3833310836

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Rezensiert von Martin Katzorreck