Das kalte Licht der fernen Sterne

Der Ort meiner Kindheit ist ein Städchen unweit von Moskau. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ich bin wieder hier. Unser Haus brannte bald nach unserem Weggang ab. Der alte Lindenbaum im Garten, vermutlich der älteste Baum im Ort, stürzte ein Jahr später um.
> Der Debütroman der jungen deutschsprachigen Autorin Anna Galkina ließe sich leicht autobiographisch lesen. Sowohl die Hauptprotagonistin Nastja als auch die Autorin selbst verlässt mit ihrer Familie ihre Heimat in der Sowjetunion Richtung Westen. Nach zwanzig Jahren kehrt die Hauptfigur des Romans wieder zurück ins heimatliche Dorf. Vieles hat sich seitdem nicht verändert. Einiges aber schon – die sowjetische Brotfabrik wurde von einem luxuriösen Kirchenkomplex ersetzt. Statt des ungenießbaren Brotes riecht man nun den Weihrauch. Die orthodoxe Religion ist in ihrer vollen Pracht und Macht wieder da:
Aus dem Fabrikgebäude ist ein prächtiger Kirchenkomplex geworden. Einige Kuppeln sind vergoldet, andere himmelblau und mit Sternen verziert. Das Gold glänzt, die Sterne leuchten, der Schein trügt.
Das kranke System, das in der Sowjetunion entstanden ist, wird hier von Anna Galkina im Kleinen, in der Peripherie untersucht. Die unfassbaren Brutalitäten der Menschen und die große Armut und Not prägen die Kindheit und die späteren Jahre der Protagonistin. Die Menschen müssen im Dorf nur mit wenigen Mitteln zurechtkommen. Das System lebt aber weiter in ihrem gewohnten Tempo und ähnelt dem Plumpsklo im Garten hinter dem Haus: Ein mit Fäkalien überfülltes Klo friert im Winter ein, um im Frühling zeitgleich mit der 1.-Mai-Parade wieder auftauen zu können. Die natürliche Zirkulation ist zu einem Teufelskreis geworden. Genau so funktioniert auch das System. Der Wassermangel wird im Winter mit dem geschmolzenen Schnee gelöst. Das Toilettenpapier ist Mangelware. Die Tageszeitungen bieten zwar einen praktischen Ersatz, aber hier ist Vorsicht geboten. Die Großmutter passt immer sehr genau darauf auf, dass die Bilder der Partei-Funktionäre rechtzeitig ausgeschnitten werden. Sonst droht das Gefängnis.
Das Erziehungssystem wird im Roman in seiner vollen Brutalität geschildert. Die Kinder werden im Kindergarten zum kollektiven, gegenseitigen Bestrafen motiviert und die sogennanten Schwererziehbaren gedemütigt. In diesem Land, in dem es offiziell keinen Sex gibt, dringt Sex in einer perversen Form in die Öffentlichkeit. Die Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählerin Nastja sind stark von Bildern geheimnisvoller Männer geprägt, die sich im Wald oder öffentlich auf der Straße befriedigen.

Stück für Stück führt uns die Erzählerin in die Dorfstrukturen ein. Das Leben in der Peripherie, unweit von Moskau, hat seinen eigenen Rythmus. Mit dem Erwachsenwerden wird Nastjas Leben viel aufregender. Die ersten Freundinnen sind da und die ersten Abendteuer mit ihrem Freund Dima ebenfalls. Die Verliebten müssen vor dem Rest der Welt fliehen. Es folgt ein langes Versteckspiel.

Anna Galkina zeichnet in ihrem Roman ein schockierendes Panorama des sowjetischen Dorfes. In der zweiten Hälfe des Romans fällt allerdings deutlich die Spannung. Das Erzähltempo wird langsamer und die Erzählung verliert stückweit an Kraft und Intensität. Der Roman schafft einige eindrückliche Bilder und Charaktere, überzeugt in seiner Gesamtheit letztlich aber wenig. Die Geschichte ihrer jüdischen Urgroßmutter und des jüdischen Kerzenständers, dem ein bestimmter Familienmythos zugeschrieben wird, tauchen relativ zum Schluss des Romans kurz auf, funktionieren aber ebenfalls nicht ganz, da sie zu kurz und nur am Rande erwähnt werden.
Trotzdem ist der Roman durchaus eine spannende Lektüre einer jungen Autoren, welche die LeserInnen mit ihrem Debüt unbedingt auf die weiteren Bücher neugierig macht.

Rezension von Irene Beridze

Das kalte Licht der fernen Sterne

218 Seiten, € 19,90, gebunden
Frankfurter Verlagsanstalt, ISBN 978-3627002244

→ Leseprobe→ kaufen

Das kalte Licht der fernen Sterne

Der Ort meiner Kindheit ist ein Städchen unweit von Moskau. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ich bin wieder hier. Unser Haus brannte bald nach unserem Weggang ab. Der alte Lindenbaum im Garten, vermutlich der älteste Baum im Ort, stürzte ein Jahr später um.
> Der Debütroman der jungen deutschsprachigen Autorin Anna Galkina ließe sich leicht autobiographisch lesen. Sowohl die Hauptprotagonistin Nastja als auch die Autorin selbst verlässt mit ihrer Familie ihre Heimat in der Sowjetunion Richtung Westen. Nach zwanzig Jahren kehrt die Hauptfigur des Romans wieder zurück ins heimatliche Dorf. Vieles hat sich seitdem nicht verändert. Einiges aber schon – die sowjetische Brotfabrik wurde von einem luxuriösen Kirchenkomplex ersetzt. Statt des ungenießbaren Brotes riecht man nun den Weihrauch. Die orthodoxe Religion ist in ihrer vollen Pracht und Macht wieder da:
Aus dem Fabrikgebäude ist ein prächtiger Kirchenkomplex geworden. Einige Kuppeln sind vergoldet, andere himmelblau und mit Sternen verziert. Das Gold glänzt, die Sterne leuchten, der Schein trügt.
Das kranke System, das in der Sowjetunion entstanden ist, wird hier von Anna Galkina im Kleinen, in der Peripherie untersucht. Die unfassbaren Brutalitäten der Menschen und die große Armut und Not prägen die Kindheit und die späteren Jahre der Protagonistin. Die Menschen müssen im Dorf nur mit wenigen Mitteln zurechtkommen. Das System lebt aber weiter in ihrem gewohnten Tempo und ähnelt dem Plumpsklo im Garten hinter dem Haus: Ein mit Fäkalien überfülltes Klo friert im Winter ein, um im Frühling zeitgleich mit der 1.-Mai-Parade wieder auftauen zu können. Die natürliche Zirkulation ist zu einem Teufelskreis geworden. Genau so funktioniert auch das System. Der Wassermangel wird im Winter mit dem geschmolzenen Schnee gelöst. Das Toilettenpapier ist Mangelware. Die Tageszeitungen bieten zwar einen praktischen Ersatz, aber hier ist Vorsicht geboten. Die Großmutter passt immer sehr genau darauf auf, dass die Bilder der Partei-Funktionäre rechtzeitig ausgeschnitten werden. Sonst droht das Gefängnis.
Das Erziehungssystem wird im Roman in seiner vollen Brutalität geschildert. Die Kinder werden im Kindergarten zum kollektiven, gegenseitigen Bestrafen motiviert und die sogennanten Schwererziehbaren gedemütigt. In diesem Land, in dem es offiziell keinen Sex gibt, dringt Sex in einer perversen Form in die Öffentlichkeit. Die Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählerin Nastja sind stark von Bildern geheimnisvoller Männer geprägt, die sich im Wald oder öffentlich auf der Straße befriedigen.

Stück für Stück führt uns die Erzählerin in die Dorfstrukturen ein. Das Leben in der Peripherie, unweit von Moskau, hat seinen eigenen Rythmus. Mit dem Erwachsenwerden wird Nastjas Leben viel aufregender. Die ersten Freundinnen sind da und die ersten Abendteuer mit ihrem Freund Dima ebenfalls. Die Verliebten müssen vor dem Rest der Welt fliehen. Es folgt ein langes Versteckspiel.

Anna Galkina zeichnet in ihrem Roman ein schockierendes Panorama des sowjetischen Dorfes. In der zweiten Hälfe des Romans fällt allerdings deutlich die Spannung. Das Erzähltempo wird langsamer und die Erzählung verliert stückweit an Kraft und Intensität. Der Roman schafft einige eindrückliche Bilder und Charaktere, überzeugt in seiner Gesamtheit letztlich aber wenig. Die Geschichte ihrer jüdischen Urgroßmutter und des jüdischen Kerzenständers, dem ein bestimmter Familienmythos zugeschrieben wird, tauchen relativ zum Schluss des Romans kurz auf, funktionieren aber ebenfalls nicht ganz, da sie zu kurz und nur am Rande erwähnt werden.
Trotzdem ist der Roman durchaus eine spannende Lektüre einer jungen Autoren, welche die LeserInnen mit ihrem Debüt unbedingt auf die weiteren Bücher neugierig macht.

Rezension von Irene Beridze

Das kalte Licht der fernen Sterne

218 Seiten, € 19,90, gebunden
Frankfurter Verlagsanstalt, ISBN 978-3627002244

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Rezensiert von Gast