Alles was du brauchst

Nathan Staples, der allein auf Foal Island wartete, drehte sich im Bett. Er presste seine Brust flach auf die Matratze, die Hüfte leicht gebeugt, legte sich zurecht und atmete ruhiger. Ein wohlbekannter Mangel kribbelte in seinem Arm, kroch weiter hinauf und stichelte in seinem Hirn ...
Mit diesen scheinbar harmlosen Worten wirft die schottische Autorin A. L. Kennedy den Leser in das Leben ihres Protagonisten Nathan Staples. Doch Vorsicht! Der Schein trügt, denn schon wenige Zeilen später kann man nicht mehr von dieser Lektüre lassen. Ist gefangen von diesem seltsamen Mr. Staples, dem man auf den ersten Seiten bei einem Selbstmordversuch begleitet. Eins muss gesagt sein: Dieser Roman sollte verschreibungspflichtig sein; und vor dem Gebrauch ist eine genaue Lektüre der Risiken und Nebenwirkungen dieser bitteren Medizin ratsam.

Der Plot ist schnell erzählt: Staples, ein mehr oder weniger erfolgreicher Autor von Romanen mit pornografischem Touch, hat mit seinem Leben mehr als abgeschlossen. Er hasst es und er hasst sich. Das einzige, was ihn am Leben gehalten hat, ist sein Refugium Foal Island. Kennedy schafft mit dieser Insel eine Parallelwelt, auf der neben Nathan Staples weitere Charaktere auftauchen, allesamt Schriftsteller und alle auf der Flucht vor oder auf der Suche nach dem, was man »Leben« nennt. Man trifft auf Joe, der ein Faible für Okkultes und Zahlenmystik hat und der Vorsitzende der Stiftung ist, die den Inselbewohnern ihren Aufenthalt auf Foal Island ermöglicht. Auf dem kargen Eiland leben außerdem die sexsüchtige Lynda und ihr Mann Richard, Louis, ein Schriftsteller, der nicht mehr schreibt, und Ruth, die alle mit ihrer ständig wiederkehrenden Geschichte einer Haiattacke, die sie nur knapp überlebte, nervt.
Das Zittern hatte eingesetzt, und der Schock. Sein Haar war klitschnass vom Schweiß, sein Overall ebenso, seine Haut war wie die eines Toten – bleich und kalt-, obwohl er sicherlich und gründlich und nachweislich nicht tot war. Seine wiederhergestellte Existenz hallte von allen Knochen wider…
Ja.
Das bestmögliche High, der großartigste Schuss, Freude in jeder einzelnen Zelle und weiter hinauf.
Ja.
Der Gegenpol zum lebensmüden, kauzigen Nathan Staples ist die junge lebenshungrige Mary, Staples Tochter, die davon allerdings nichts weiß. Mary kennt weder Ihren Vater noch Ihre Mutter, die sie bei ihren zwei „Onkeln“ Bryn und Morgan zurückließ. Man könnte meinen, nun folge eine abgedroschene Geschichte à la „Waisenkind findet Vater und alle sind glücklich“. Doch weit gefehlt: Marys Geschichte ist ein atemberaubender Spannungsbogen, den Kennedy geschickt webt und auftürmt, eine Geschichte mit vielen Fallstricken und Klippen. Kennedys Trick besteht darin, den Leser immer etwas mehr wissen zu lassen als die handelnden Figuren. Kennedy lässt diese im wahrsten Sinne des Wortes am Haken zappeln. Und genauso geht es dem Leser, denn immer wieder passiert Unerwartetes. Man spürt beim Lesen, wie sich dieser Haken mit Ironie, ja Bosheit, aber auch Mitgefühl, Liebe und mit Lust an menschlichen Abgründen, Wünschen, Begierden und Hoffnungen immer weiter ins Fleisch und in die Herzen bohrt. Dass der Plot etwas einfach gestrickt ist, tritt durch die psychologische Finesse, mit der Kennedy Ihre Figuren aufbaut, fast vollkommen in den Hintergrund. Vor Kennedys Sprachgewalt und schnörkelloser Poesie, mit der sie ihren gnadenlosen Realismus würzt, kann man nur den Hut ziehen. »Alles was du brauchst« ist ein großer Roman von rücksichtsloser Kraft und Wortgewalt!

Alles was du brauchst

576 Seiten, € 29,50, gebunden
Wagenbach, ISBN 978-3803131720
aus dem Englischen von Ingo Herzke

Rezensiert von Matthias Hey