Blitzbirke

Im Zug. HANS trägt eine Seemannskappe, raucht Pfeife. Ich schaue ihn an. Neben UNS eine MUTTER mit ihrem SOHN, der als SEERÄUBER verkleidet ist.
Edda ist vor einigen Jahren von zuhause weggezogen. Zuhause, das ist ein kleines Dorf namens Odinsgrund, gelegen zwischen Autobahnen und Kornfeldern, in dem es zwar schon Internet gibt, aber ansonsten nicht viel, für das sich hierzubleiben lohnte.
Nun ist sie wieder einmal auf Heimatbesuch, um mit ihren Eltern deren Hochzeitstag zu feiern. Es ist das erste Mal, dass Edda seit ihrem Auszug in ihr Heimatdorf zurückkehrt, und bereits bei ihrer Ankunft schließt dieses verwaschene Irgendwo zwischen dem ununterbrochenen Tosen der Autos und dem allgegenwärtigen Terpentingeruch sie völlig ein. Sie kommt mit gemischten Gefühlen zurück.
Ich liebe das Schweigen der Landschaft und ihre plötzliche Wut.
Lisa Kreißler sagt selbst, nichts langweile sie mehr als ein gut gemachter Plot. Dieser Hang zur Nicht-Perfektion ist auch in »Blitzbirke« deutlich spürbar: Der Roman ist weit entfernt davon, perfekt zu sein – dafür ist er zu sehr in der langweiligen deutschen Provinz verortet und sein Personal zu kantig. Die Autorin hat eine Handvoll Charaktere erschaffen, die alle auf ihre Weise unglaublich liebenswert sind, die man selbst irgendwie aus seiner eigenen Kindheit zu kennen scheint und die dennoch nicht echt sind und es auch gar nicht sein wollen. Die Marotten der bedingungslos sympathischen Mutter etwa oder das Lethargische von Eddas Freund Hans – all das sind wunderbare Eigenarten, die den Figuren ihr ganz eigenes Leben einhauchen, sie aber gleichzeitig auch deutlich als Ikonen entlarven. Odinsgrund könnte überall und nirgends liegen, und es taumelt selig zwischen poetischer Selbstfindung und radikalem Anderssein.
“Hier bist du wie ein Tier“, sagt er, „du bist ganz ängstlich und dein Atem riecht so gut.“ Und du bist wie ein Mann, denke ich, du sagst etwas und schläfst gleich ein.
Man wünscht sich mehr Bücher dieser Sorte: Bücher, in denen die Grenzen zwischen Schein und Sein niemals klar sind; Bücher, die von etwas erzählen, das man selbst nur allzu gut zu kennen meint und das man gleichzeitig noch nie gesehen hat. »Blitzbirke« ist ein unheimlich starkes Debüt, dem man viele, viele Leser wünscht, weil dieses Überallundnirgendsdorf geradezu nach noch mehr skurrilen Figuren schreit, die es noch ungreifbarer und damit noch liebenswerter machen.
Es fühlt sich an, als zeige die Gegenwart mit dem Finger auf einen, als wolle sie sagen: Ja, und du? Was denkst du denn, wer oder was du bist? Es gibt kein »richtig« oder »falsch«. Es gibt nur deine Gefühle, und nun fass dir ein Herz und leb sie!

Blitzbirke

208 Seiten, € 17,90, gebunden
mairisch, ISBN 978-3938539309

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Rezensiert von Alexander Schau