Die Lebenden reparieren

Was Simon Limbres’ Herz, dieses Menschenherz, ist, seit sein Rhythmus sich im Augenblick der Geburt beschleunigt hat, als andere Herzen draußen, die das Ereignis begrüßten, sich ebenfalls beschleunigten, was dieses Herz ist, was es hat hüpfen, überlaufen, anschwellen, leicht wie eine Feder tanzen oder schwer wie ein Stein wiegen lassen [...]
... und genau deswegen macht sich die Autorin daran, dieses Herz des 20jährigen Simon Limbres zu ergründen. Anfangs schlägt es noch in der Brust des Gelegenheitssurfers, der nach einem Autounfall ins Koma fällt und für hirntot erklärt wird. Die entsetzten Eltern geben Simons Körper nach der Überwindung des ersten Schocks frei, und Maylis de Kerangal lässt alle Personen, die unmittelbar von der Organentnahme betroffen sind, nacheinander auftreten. Neben den Eltern lernen wir den Anästhesisten kennen, den Krankenpfleger, die Freundin Juliette, die kleine Schwester, den Chirurgen, die Assistenzärztin und ganz am Ende die Empfängerin des Herzens. Ein jeder von ihnen hat seinen eigenen Charakter, unterschiedliche Interessen, andere Lebensweisen, und jeder von ihnen steht in einem anderen Verhältnis zu Simon. Und alle erleben an diesem Tag einen ganz besonderen Augenblick, wie beispielsweise Virgilio, der Chirurg:
Virgilio sieht das Herz, diesen Hochleistungsmechanismus und gleichzeitig mächtigen Operator des Imaginären, als den Dreh- und Angelpunkt der Vorstellungen, die der Beziehung des Menschen zu seinem Körper, zur Schöpfung, zu den Göttern zu Grunde liegen, und der junge Chirurg begeistert sich für die Rolle, die das Herz in der Sprache spielt, wo es immer wieder an der magischen Schnittstelle zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung, zwischen Muskel und Affekt auftritt, er ergötzt sich an Metaphern und Figuren, in denen es für das Leben selbst steht, und wiederholt bei jeder Gelegenheit, das Herz sei als Erstes entstanden und werde als Letztes verschwinden.
Die langen Sätze sind gewöhnungsbedürftig, doch wer sich ihnen hingibt, kann sich von ihrem Rhythmus und ihrer Poesie tragen lassen und viel erleben in diesem atemraubenden Roman, der von einem Höhepunkt zum nächsten gelangt und dem dabei nie die Luft ausgeht. Das Überraschende ist, dass es dem Leser die Sprache verschlägt, weil die Spannung konstant bleibt und immer wieder zentrale Fragen um das Thema Organtransplantation aufgeworfen werden. Wer darf bestimmen, ob ein Hirntoter Organspender ist, wenn es keine Erklärung des Betroffenen gibt? Wer bestimmt, wer die Organe erhalten soll? Wie gelangen die Organe an ihr Ziel? Was muss in dieser Chronologie des Todes, des Lebenskreislaufs bedacht werden? Kerangal schafft es, die verschiedenen Beweggründe der auftretenden Personen überzeugend darzustellen. Dabei ist sie frei von Kitsch, doch ist ihr Reportagestil gleichzeitig auch nicht nüchtern, sondern selbst vom Geschehen überwältigt und darum gewaltig, so wie die Brandung, wie die Welle am Anfang des Romans, die sich scheinbar langsam nähert und schließlich alles mit sich reißt.
Die erzählerische Wucht ist überwältigend, und die Verdichtung des Lebensendes und der Beginn eines neuen Lebens mit neuem Herzen in 24 Stunden sind nachdrücklich gelungen. Die beschriebene Extremsituation ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung und für die meisten ein Wendepunkt in ihrem Leben. Die Übersetzung ist glänzend gelungen und berührt emotional. Der Leser fiebert mit und ist am Ende verblüfft, wie dramatisch 24 Stunden sein können.

Die Lebenden reparieren

255 Seiten, € 19,95, gebunden
Suhrkamp, ISBN 978-3518424780
Andrea Spingler

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Rezensiert von Dennis Gerstenberger