Der Fänger im Roggen

Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als erstes Wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr's genau wissen wollt.
Holden Caulfield ist der Ich-Erzähler des Romans und berichtet über seine Erlebnisse, nachdem er wegen schlechter Leistungen von seiner Schule verwiesen wurde. Kurz vor den Weihnachtsferien verlässt er seine Schule vorzeitig. Zum einen hält er die Gesellschaft seiner Zimmerkameraden, dem ungepflegten Ackley und dem arroganten, selbstverliebten Stradlater nicht mehr aus; zum anderen überlegt er, dass es klug wäre, wenn er erst dann zu seinen Eltern, einer unter nervösen Anfällen leidenden Mutter und einem erfolgreichen Anwalt, zurückkehrte, wenn sie die Nachricht von seinem Schulverweis erhalten und einige Zeit verdaut hätten. Holden packt seine Sachen und nimmt einen Zug nach New York.
Als ich an der Penn Station ausstieg, ging ich als erstes in eine Telefonzelle. Mir war danach jemanden anzurufen. …, aber kaum war ich drinnen, fiel mir niemand ein, den ich anrufen konnte.
New York ist die Stadt, in der er aufgewachsen ist, und in der noch immer seine Familie lebt. Einsam und zunehmend verzweifelt streift Holden durch die Stadt seiner Kindheit. Um dem beklemmenden Gefühl der Einsamkeit zu entgehen, treibt er sich in Bars herum, betrinkt sich oder verabredet sich mit Bekannten - etwa mit einem Mädchen seines Alters, Sally Hayes, mit dem er sich ab und zu trifft.
All seine Unternehmungen können jedoch nichts an seiner Verzweiflung und dem wachsenden Gefühl der Verlorenheit ändern. Das Fatale ist und bleibt eine Gabe oder eine Art Fluch, die Holden die meiste Zeit seines Lebens zu verfolgen scheint: Es ist seine Fähigkeit, jede Art von Falschheit und Affektiertheit zu erkennen. Seine Reaktion darauf ist eine beinahe physisch spürbare Abneigung, ein bis zum Ekel gesteigerter Widerwillen und das beklemmende Gefühl, davor fliehen zu müssen. Sein Umherstreunen ist nichts anderes als eine Flucht vor etwas, dem er niemals entkommen wird – vor der Falschheit seiner Mitmenschen nämlich. Was Holden tatsächlich am Leben erhält, sind seine manchmal kindliche Fantasie und sein Mitgefühl. 
Gerade seine Einfühlsamkeit macht viele der Situationen, in die Salinger seinen Helden hineinmanövriert, zum Lachen traurig: Als er sich eine Hure aufschwatzen lässt, mit ihr dann aber lieber ein Gespräch führen will als Sex zu haben, und von deren Zuhälter er schließlich eine Tracht Prügel kassiert. Oder die immer wiederkehrende Frage nach dem Verbleib der Enten auf einem See im Central Park, wenn dieser zugefroren ist. Die Sympathie zu zwei Nonnen, denen er beinahe sein letztes Geld als Spende mitgibt, im Wesentlichen nur deshalb, weil eine von beiden ein angenehmes Lächeln hat …

Salinger schafft mit diesem Roman ein zeitloses Meisterwerk. Er fängt einen Moment im Leben eines Menschen ein, den so viele, wenn nicht alle von uns kennen. Die Verlorenheit zwischen der Welt der Kindheit und der der Erwachsenen. Es ist eine der großen Tragödien unserer Leben, von denen sich einige von uns nie erholen - und man neigt dazu, auch Holden zu denjenigen, die an der alltäglichen Verlogenheit oder an der Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit, in der das Herz zumindest zeitweise leicht und frei schlagen konnte, zugrunde gehen.

Ein starkes Bild für diese Sehnsucht ist Holdens Erinnerung an die Besuche das Naturkundlichen Museums mit seiner Schulklasse:
Aber das Beste in dem Museum war, dass alles immer genau da blieb, wo es war. Man könnte hunderttausendmal hingehen und der Eskimo hätte noch immer gerade die beiden Fische gefangen, die Vögel wären noch immer auf dem Weg nach Süden,... Niemand wäre anders. Anders wäre nur man selbst.... Manche Sachen die sollten bleiben wie sie sind. Man sollte sie in einen großen Glaskasten stecken können und sie einfach so lassen.
Und noch etwas ist außerordentlich an Salingers Roman: Er schafft es schon nach wenigen Seiten eine Atmosphäre zu erzeugen, die man am besten mit einer lautlosen, subtilen und dennoch in jedem Satz mitschwingenden Anspannung vergleichen könnte. Wie der Moment, kurz bevor der Luftballon platzt, der Faden reißt, die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Jeden Moment könnte es so weit sein, doch es geschieht – NICHTS. Das Kind wird nicht überfahren, niemand stürzt in den Abgrund. Ein Stolpern auf dem Seil ohne doppelten Boden. Und doch sieht man Holden weiter gehen.

Viele Rezensenten interpretieren »Der Fänger im Roggen« neben den gesellschaftskritischen Aspekten als didaktischen Roman, als Lehrstück. Das Individuum zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, und schließlich das Erwachsensein. Als Zeichen für Holdens Ankommen im Erwachsensein wird seine Entscheidung, zu bleiben und für seine kleine Schwester Phoebe da zu sein, gewertet. Aber ist das wirklich so zu verstehen? Hat Holden den Satz seines ehemaligen Lehrers, »Der unreife Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er edel für eine Sache sterben will, der reife dadurch, dass er bescheiden für eine leben will.«, wirklich angenommen?
Salinger hat es zeitlebens untersagt, eine Fortsetzung seines Romans zu schreiben »60 Years Later: Coming Through The Rye« des schwedischen Schriftstellers und Verlegers Fredrik Colting etwa durfte erst nach Salinger Tod veröffentlicht werden. Der Gedanke dahinter ist verlockend: Holden Caulfield als Greis, ein ganzes Leben hinter sich. Was war das für ein Leben, was ist aus ihm geworden?

Und was hat es nun mit dem Titel des Romans auf sich. Wer ist der Fänger im Roggen? Wer wird gefangen? Lest selbst!

Der Fänger im Roggen

272 Seiten, € 8,99, broschiert / kartoniert
Rowohlt, ISBN 978-3499235399
Eike Schönfeld

Rezensiert von Matthias Hey