von Helen Fitzgerald
Furchtbar lieb
Manche Menschen finden auf einen Schlag zu sich selbst, wie bei einer Explosion. Vielleicht bei einer Rucksacktour im Himalaya oder auf einem LSD-Trip. Manche Menschen studieren die Kunst der Selbstfindung und machen nach Jahren fleißigen Lernens ihren Abschluss - oder auch nicht. Ich selbst habe Stück für Stück zu mir selbst gefunden, mehr oder weniger durch eine Reihe von Zufällen.Krissie Donald ist das, was sie selbst als gescheiterte Existenz bezeichnen würde: sie ist Mutter wider Willen und kommt, auch wenn sie selbst beruflich als Sozialarbeiterin verwahrloste Kinder vor ihren Eltern schützt, nicht im Geringsten mit der eigenen Verantwortung klar. Sie wandelt von einer Bettgeschichte zur nächsten, ist nicht fähig, sich dauerhaft zu binden, sucht vielleicht, findet aber nichts, was dem Glück auch nur annähernd ähnelt. Auch ihr Kind entstand in einer drogengeschwängerten Nacht im Urlaub auf Teneriffa, ist vaterlos und überfordert sie. Um auszuspannen und den Kopf wieder frei zu bekommen fährt Krissie mit ihrer besten Freundin Sarah und deren Ehemann Kyle in die schottischen Highlands.
Sarah wiederum versucht seit Jahren erfolglos, von Kyle geschwängert zu werden. Ihre Ehe ist dementsprechend seit langem auf eine Zerreißprobe gestellt, deren Scheitern sich lautstark ankündigt. Schon auf der ersten Seite erfährt der Leser, dass Krissie im Laufe dieses Ausflugs mit Kyle, dem Mann ihrer besten Freundin Sex haben und ihre beste Freundin umbringen wird.
Wenn das kein Grund ist, weiterzulesen. Wenn das kein Grund ist, 200 Seiten darauf zu warten, dass endlich das passiert, von dem man sowieso schon weiß, dass es passiert. Wenn das kein Grund ist, einer wirr erzählten Handlung voll von abgedroschenen Teenie-, später Thrillerklischees zu folgen und dauerhaft nach der Spannung zu suchen, die auf der ersten Seite so plump aufgebaut wurde. Stetig schwankend zwischen Slapstick und Pornographie wird immer wieder versucht, mitten in der derben, witzelnden Sprache das Thema Kindesmissbrauch zu behandeln, was ebenso derb misslingt. Von der chaotischen Antiheldin über den frustrierten Ehemann, die nicht schwanger werden wollende, in Therapie befindliche, durchdrehende Freundin bis hin zum netten, kiffenden Aussteigertypen, dem heimlichen Helden, der für seine Angebetete alles tut und der von ihr widerum nicht beachtet wird, wird hier jedes Klischee bedient. Wenn dann die verdrogte, saufende Sozialarbeiterin ihren Sohn, den sie vorher für eine wilde Nacht im Zelt verleugnet hat, den sie schreiend in der Wohnung allein ließ, den sie monatelang nicht einmal mit einem Lächeln bedacht oder mit mütterlicher Wärme behandelt hat, am Ende plötzlich doch wiederhaben will, ist die Absurdität perfekt, wird jedoch formschön verpackt und mit dem Etikett »Selbstfindung« versehen. Mögliche Sympathie mit der Protagonistin, die sich den ganzen Roman über schon nicht einstellen wollte, löst sich vollends in Verwirrung auf und reiht sich ein ins Wirrwarr der nicht nachvollziehbar handelnden Charaktere, gleich neben dem »Bitte, hier ist meine Pistole, erschieß mich doch, ach tust Du ja doch nicht, aber ich bin so ein schlechter Mensch«-Pädophilen, dessen Eskapaden nah am Voyeurismus vorbeischrammen. Spätestens das kann man auch mit dem überall anklingenden britischen Humor nicht mehr entschuldigen.
Furchtbar lieb
von Helen Fitzgerald
Rezensiert von Rike Zierau
Rike liest nur halb so viel, wie sie es gern möchte und mag weniger als die Hälfte der Bücher nur halb so gern, wie sie es (vielleicht) verdienen. Iris Radisch hält sie für eines der besten Dinge, die der Literaturwelt passieren konnten.