Atemschaukel

Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.
Im Nachwort erzählt die Autorin ein wenig von der Entstehungsgeschichte des Romans: Viel von ihren Gesprächen mit früheren Gefangenen des Arbeitslagers sind mit eingeflossen, allen voran die Erzählungen von Oskar Pastior, der vor drei Jahren, mitten in der gemeinsamen Arbeit an diesem Buch, unerwartet verstarb. Seine »Geschichte« hat Harte Müller wohl am stärksten als Grundlage genommen für die Erzählfigur Leoopold Auberg, aus dessen Sicht sie den damaligen Lageralltag beschreibt.
Der Hunger ist ein Gegenstand. Der Hunger ist ins Hirn gestiegen. Der Hungerengel denkt nicht. Er denkt richtig. Er fehlt nie. Er kennt meine Grenzen und weiß seine Richtung.
Herta Müller hat all das nie am eigenen Leib erfahren, und dennoch ist diese Geschichte unverkennbar auch ihre eigene. Sie erzählt von fünf langen Jahren im russischen Arbeitslager, damals, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Russen alle jungen Deutsch-Rumänen zum Wiederaufbau zu sich in die Lager holten. Auf die Einzelheiten will ich nicht eingehen; nicht, weil sie nicht wichtig wären, sondern vielmehr, weil es müßig ist, das Leid und die Peinigungen aufzuzählen. Für all das, was dort geschah, reicht die eigene Vorstellungskraft. Schön war's nicht. Alles andere als das. Wovon dieses Buch – wie eigentlich immer bei Herta Müllers Romanen – lebt, ist die Sprache, dieser ganz eigenwillige, unverkennbare Stil. Hochpoetisch bis in den allerletzten Winkel, von einer unaufdringlichen und gleichzeitig doch markerschütternden Lakonie durchwoben. In der Geschichte ist nicht nur Platz für den zehrenden Alltag, sondern auch Zeit für Träume, durch die Leo abseits der Arbeit versucht, seinen Kopf freizuhalten von der Gefahr, inmitten dieser Welt verrückt zu werden.
Der Himmel und die Erde sind die Welt. Der Himmel ist so groß, weil darin für jeden Menschen ein Mantel hängt. Und die Erde ist so groß wegen den ganzen Entfernungen bis zu den Zehen der Welt. Bis dorthin ist es aber so weit, dass man mit dem Denken aufhören muss, weil man die Entfernungen wie eine leere Übelkeit im Magen spürt.
»Atemschaukel« ist ein Buch, das sich mir tief eingebrannt hat. Es wühlt auf und es verstört. Gleichzeitig ist die Autorin aber auch eine literarische Augenzeugin, ohne werten zu wollen oder anzuklagen. Über die Tatsachen selbst gibt es wenig Worte zu verlieren. Sie sprechen für sich. Herta Müller konzentriert sich auf etwas viel Tieferes, auf Schönheit und die eigene Kopffreiheit, die einem niemand nehmen kann. Und dadurch ist ein eindringliches Pladoyer für die Freiheit der Gedanken entstanden, ein beeindruckender, vielschichtiger und oftmals sehr subtiler Roman, der seinen Leser mit einem unangenehmen Nachgeschmack entlässt und gleichzeitig mit dem Gefühl, etwas trotz der Thematik Wunderschönes hinter sich gelassen zu haben.

Atemschaukel

304 Seiten, € 9,99, broschiert / kartoniert
Fischer, ISBN 978-3596187508

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Rezensiert von Alexander Schau