180° Meer

Ich bin kein schöner Mensch.
Meine Aura ist irgendwie zahnfarben. Nicht offwhite, nicht creme. Nicht einmal neutral beige.
Sarah Kuttners Ich-Erzählerin Jule weist große Ähnlichkeiten mit der Protagonistin ihres Romans »Mängelexemplar« und somit auch mit der Autorin selbst auf. Die junge Frau leidet unter mangelndem Selbstbewusstsein, hat ein permanentes Aufmerksamkeitsdefizit, spürt eine Hassliebe zu ihrer Mutter, hängt sehr an ihrem Freund Tim, den sie jedoch auch immer wieder verbal verletzten oder gar betrügen muss - und ist im Grunde genommen die ganze Zeit mit sich selbst beschäftigt.
Ich kann nicht. Es tut mir leid. Ich muss mich sortieren.
Die ersten 50 Seiten des Romans laufen Gefahr, eine Wiederholung des Debutromans zu werden: ein Prozess der Selbstfindung auf kleinem Radius. Doch zum Glück findet Kuttner für ihre Jule einen Ausweg, weil die Romanfigur nach einem Streit mit Tim tatsächlich den Absprung aus ihrem tristen Alltag in Berlin schafft und Hals über Kopf zu ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder Jakob nach London in seine WG zieht, um dort auf andere Gedanken zu kommen. Dort schaltet sie allmählich ab, kann ihren Job und den Streit mit Tim vergessen und sich auf andere Aufgaben konzentrieren. Die WG, in der Jakob wohnt, ist zweckmäßig belegt. Er teilt sich das Vier-Zimmer-Appartement mit einem weiteren Deutschen, Jan, einer kleinen, drallen Tschechin namens Tereza und der imponierend wuchtigen Dominikanerin Rose. Keiner der vier hat eine echte Beziehung zu einem der anderen, man lebt zusammen, weil London teuer ist, man teilt sich Küche, Bad und Nebenkosten und geht sonst seinem eigenen Leben nach.
Eine Art emotionslose Zwangsehe, die mir besonders jetzt unfassbar attraktiv erscheint.
Jules Lebensaufgabe bleibt die Erkundung des eigenen Ich, doch projiziert sie diese Aufgabe auf ein Gegenüber, und in ihrem Falle ist ihr der Hund einer WG-Mitbewohnerin am nächsten. Dieser Hund ist zu Beginn sehr misstrauisch, nur langsam gewinnt er Zutrauen und wird schließlich zum ständigen und unzertrennlichen Begleiter. Ein neuer Job in der nahegelegenen Küstenstadt Eastbourne ist ebenfalls Balsam für die Seele, denn im Altenheim kann sie die dortigen Bewohner mitbetreuen und findet etwas innere Ruhe und gewinnt Stabilität. Mit dem Hund an ihrer Seite traut sich Jule mehr zu und nimmt endlich auch Kontakt auf zu ihrem krebskranken Vater, der in der Nähe wohnt und nicht mehr lange zu leben hat, wie Jakob ihr mitteilt. Sie hat jedoch keinen wirklich festen Boden unter den Füßen und ist weiterhin mit sich selbst unzufrieden.
Hin und her, immer hin und her. Nie ist etwas beständig in mir. Schade eigentlich, immer muss ich es mir so anstrengend machen.
Die Flucht vor dem Fällen von Entscheidungen prägt den Roman. Jule ist zwar ein starker, jedoch gleichzeitig auch schwacher Charakter. Eine flache Story kann man Kuttner nicht vorwerfen, während eine einfache, aus dem Leben gegriffene Sprache ihr Markenzeichen ist. »180° Meer« ist für das gleiche Zielpublikum geschrieben wie »Mängelexemplar«: für Facebook-Freunde, für Blogger, für Menschen, die eine einfache Lektüre und einen schnellen Konsum bevorzugen, denn es sind schnell aneinandergereihte Handlungsabläufe, die die Geschichte vorantreiben und keine Erkenntnis über sich selbst oder die Welt zulassen. Das soll nicht unbedingt heißen, dass es ein schlechter Roman ist, aber es ist eben keiner, der zur Weltliteratur gehört und lange in Erinnerung bleiben wird. Man kann gut eintauchen in Jules Welt mit ihren persönlichen Problemen, Hoffnungen, Ängsten, Erfolgen und Misserfolgen, denn sie kann eine leise Spannung halten, auch wenn Jule nicht aus sich herauskommt, sie nicht von ihrer Situation abstrahieren kann und in ihrem kleinen Universum gefangen bleibt. Für einen Erkenntnisgewinn indes wäre gerade dieser Schritt raus aus der kleinen Welt notwendig zur Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Jule hat am Ende etwas über sich selbst gelernt und über ihre Familie und über Beziehungen zu anderen Menschen, und es bleibt zu hoffen, dass in der nächsten Geschichte, die wir von Kuttner lesen werden, das Ganze nicht noch einmal mit anderen Protagonisten in etwas anderen Worten präsentiert wird.

180° Meer

272 Seiten, € 18,99, gebunden
S. Fischer, ISBN 978-3100024947

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Rezensiert von Dennis Gerstenberger