Vor dem Fest

Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot.
Hunderttausend Mückeneier pro Quadratmeter Sumpf. Einwohnerzahl: Ungerade. Keine Ausländer, es sei denn, man zählt Rheinländer (1) dazu. Mehr Feuerwehrmänner als Neonazis. Das ist Fürstenfelde in der Uckermark. Es fühlt sich unglaublich schwierig an, eine Rezension zu einem Buch schreiben zu wollen, über das einige Monate vorher schon geschätzt alles gesagt wurde: Im März wurde Saša Stanišićs Roman »Vor dem Fest« mit dem diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und anschließend in einer Weise durch die Medien jongliert, dass es kein Entkommen zu geben schien. Das Beste an der Sache: Ein Heimatroman? Ernsthaft? Und dann auch noch ostdeutsche Heimat? Was zum Henker soll an DDR-Muff und Abwanderung lesenswert sein?
Die Nacht hieß Flut, jetzt ebbt sie ab, schaut her, was sie angespült. Zwischen dem Strandgut wandern wir, ja nicht auf etwas treten!
Ort, Zeit und auch die Handlung selbst sind ziemlich überschaubar: Der Leser ist nur für ein paar Stunden in Fürstenfelde zu Gast, es ist die Nacht vor dem alljährlichen Annenfeste und im Dorf werden die letzten Vorbereitungen getroffen. Frau Kranz hat sich regenfest eingepackt und sich mit ihrer Staffelei und einem kleinen Schnaps ins Moor zurückgezogen, um für die morgige Wohltätigkeitsauktion das nächtliche Fürstenfelde zu malen. Herr Schramm will eigentlich nur Zigaretten holen und sich danach vielleicht noch eine Kugel in den Kopf jagen. Johann wird auf dem Weg zum Glöckner zusammen mit einer alten Flasche Cola light im Haus der Heimat eingesperrt. Anna hat auf dem Weg über die nächtlichen Felder ihr Asthmaspray vergessen und wird von zwei Männern aufgelesen, die nur in Reimen sprechen und unter der alten Eiche mit Totenköpfen Hamlet spielen ... So könnte man noch lange weitererzählen, denn Stanišić hat sein semi-fiktives Fürstenfelde bis in den allerletzten Winkel hinein mit pulsierendem Leben gefüllt. Die Figuren sind so unglaublich lebensecht, dass es ein Leichtes ist, sich jeden dieser Charaktere als den eigenen Nachbarn vorzustellen. Ob verschrobener Nostalgiker oder rechtschreibschwacher Dorfprolet: Die Liebe, mit welcher Stanišić seine Figuren greifbar macht, nimmt den Leser sofort gefangen.
Es sind gute Jahre. Wir sind vierhundert mehr als heute. Wir fahren von zwei Bahnhöfen ab und mit fünfzehn Automobilen herum. Der Optimismus zeugt Kinder.
»Vor dem Fest« ist letztlich aber viel mehr als nur ein bloßer Heimatroman; das merkt man als Leser sehr früh: Stanišić konzentriert sich nicht nur auf das Jetzt, sondern gräbt gleichzeitig auch tief in der Vergangenheit des Dorfes. Das Motiv des Fährmanns zum Beispiel zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, und viele der Figuren finden eine Entsprechung in den historischen Passagen. Ja, Stanišićs Roman ist künstlich von der ersten bis zur letzten Seite. Er ist ein wortgewaltiger Kraftakt. Er ist alles andere als bloße Unterhaltung, sondern fordernd und kräftezehrend. Er lebt von seiner treibenden Sprache, die den Leser von Beginn an involviert. Diese Sprache ist hier nicht bloß Mittel zum Erzählen, sondern bricht oft so geballt über den Leser hinein, dass man ihr nicht entkommt. Genau so muss bewegende Literatur sein: Sperrig, kraftvoll und in höchstem Maße befremdlich. »Vor dem Fest« ist der absolute Beweis dafür, was es bedeutet, Bücher zu lesen
Viel Zeit ist seitdem vergangen. Den Pestteufel gibt es nicht mehr. Alle dreizehn Jahre aber, an einem Abend im Herbst, schweigen die Frösche und schweigt der Wind und schweigt das Wasser und hört man ein Keuchen und das Geräusch schwerer Ruderschläge und eine heisere Stimme, die ruft: »Sag, alter Mann, fällt dir das Rudern schwer?«.

Vor dem Fest

316 Seiten, € 19,99, gebunden
Luchterhand, ISBN 978-3630872438

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Rezensiert von Alexander Schau