Heißester Sommer

Jetzt steht sie da, vielleicht anderthalb Meter vor Anna, als hätte sie Angst, näher zu kommen. Die anderen sind zur Seite getreten, bilden einen Halbkreis.
Das Leben ist voller Verluste. Manche davon schmerzen uns zutiefst, andere erleichtern uns. Viele der Wege, die wir - manchmal unüberlegt - einschlagen, führen uns weit weg. Ob wir unser Ziel erreichen, wissen wir meist erst, wenn wir kurz davor stehen oder es längst schon überschritten haben.
Zsuzsa Bánk schreibt über Menschen, denen genau das widerfährt: Sie erzählt vom Verlassen und Verlassen-Werden, entwirft Figuren, die ihre Familie hinter sich lassen, ihre Liebe und ihre Heimat. Sie führt alte Bekannte wieder zueinander und lässt jahrelange Freundschaften sich plötzlich in Rauch auflösen. Die Schauplätze, die sie dafür wählt, haben alle etwas Wehmütiges an sich, es schneit viel, regnet natürlich auch, ein wenig herbstlich-winterliche Gemütswärme. Sommer hält in diese Geschichten, wenn überhaupt, nur kurz oder in Erinnerungen Einzug. Alles in allem durchzieht die einzelnen Szenen wohl aber doch so eine Art spätsommerliches Flirren, das die (auch erzählerischen) Konturen abschwächt und alles auch mit einem Hauch Schwerelosigkeit anstreicht.
Alles, was wir brauchen, ist ein Päckchen Zigaretten. Das reicht aus zum Glück, sagt sie, fast, als wolle sie ein Gebot aussprechen, und dreht mit zwei Fingern einen Knoten in ihr blondes Haar, der sich gleich wieder löst. Wir kichern die Nächte durch. Wir lachen über alles. Darüber, dass es dunkel wird, darüber, dass es in ein paar Stunden wieder hell werden soll, darüber, dass es uns überhaupt gibt. So. Hier. Zu zweit. Nebeneinander.
Bánks Sprache schafft dabei etwas, was selten ist: Sie verbindet Tempo mit unglaublicher Langsamkeit. Sie reiht Wort an Wort, steckt alles ab mit Kommas, und jeder kleine Absatz wird zu einem atmosphärischen Minenfeld. Die wenigen kurzen Sätze, die hier und da vereinzelt eingestreut sind, explodieren inmitten dieser Texte mit voller Wucht. Diese Sprache ist eigentlich so einfach, und gleichzeitig ist sie auch wunderschön.
Ob ich friere? Ob mir kalt sei?, fragt er, und ich denke: Was soll das? Glaubt er, er könnte mir seinen Mantel um die Schultern legen? Er sagt, er fahre mit der 19 nach Hause, und ich weiß, die 19 fährt nicht dorthin, wo er früher gewohnt hat. Ich frage nicht: Wo fährst du hin? Wo wohnst du jetzt? Ich sage nichts. Als die nächste Bahn hält, die in meine Richtung fährt, verabschiede ich mich. Schnell, im letzten Moment, bevor die Türen zugehen. Er nickt, bleibt stumm, kein Abschiedsgruß, nichts, er sieht aus, als wolle er sagen: Bleib.
Es ist letztendlich wie mit jeder Sammlung von Erzählungen: Manche sind nach dem Lesen gleich wieder vergessen, manche hinterlassen mehr Eindruck und bleiben bis zur letzten Seite noch im Kopf und vielleicht auch noch länger. Das ist gut so; kein Buch ist Seite um Seite perfekt.
Was von Zsuzsa Bánks Texten dann übrigbleibt, ist ein herrlich ruhiges Bild, einige schemenhafte Menschen und ihre Gesichter, ein wenig Bewegung und vielleicht sogar ein kleiner Rausch. Vor Glück.

Heißester Sommer

160 Seiten, € 10,00, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3596170722

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Rezensiert von Alexander Schau