Leben auf dem Mississippi

Über den Mississippi nachzulesen lohnt sich gewiss. Er ist kein alltäglicher Fluss, sondern im Gegenteil in jeder Beziehung bemerkenswert. Betrachtet man den Missouri als seinen Hauptarm, dann ist er der längste Strom der Welt – viertausenddreihundert Meilen lang.
Diese nüchterne Faktenbeschreibung zu Beginn des Buches, von dem man in die Erwartung eines ähnlichen Abenteuers wie »Die Fahrten des Huckleberry Finn« oder »Tom Sawyers Abenteuer« startet, ist im Grunde dessen eigentlicher Inhalt. In weiten Teilen autobiographisch schildert Twain seinen Werdegang: Beginnend als Schüler, der sich über seine spätere Rolle noch nicht ganz im Klaren ist, tritt, nachdem der Mississippi ausführlich in einen vor allem geographischen und historischen Rahmen eingeordnet wurde, der Flus in den Mittelpunkt seines Strebens. Twain beobachtet, man möchte sagen, mit einer gehörigen Portion Neid, wie die Lotsen und Kapitäne der Dampfschiffe angesehen, fast angehimmelt werden und wie anders herum die Lotsen und Kapitäne mit prahlerischem Selbstbewusstsein sich auf dem Schiff geben. Ihr wöchentliches Gehalt spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Reiselust oder das Entfliehen aus der ländlichen Abgeschiedenheit werden beinahe nur beiläufig erwähnt. Der Entschluss steht alsbald fest und wird auch mit einigen Umwegen in die Tat umgesetzt.

Was folgt ist eine Beschreibung der Lotsentätigkeit. Anfangs ist dies noch interessant. Als Leser bekommt man einen recht tiefen Einblick in die Tätigkeit, welche Landmarken ein Lotse sich merken muss, was das Strömungsbild über die Tiefe der Fahrrinne sagt oder welche Besonderheiten bei einzelnen Landungsstellen zu beachten sind. Eine Hilfe, die ganze Szenerie zu verfolgen, kann eine Karte sein, die im vorliegenden Exemplar auf der Rückseite des Schutzumschlages abgedruckt ist. Ohne diese muss der Leser jedoch eine gehörige Faszination für den Beruf mitbringen, ähnlich wie Twain, wenn nicht nach der zehnten Landmarke, dem fünfzehnten Strömungsbild oder einer ebenso häufig beschriebenen Besonderheit der Eindruck entstehen soll, man stecke in einer Fachliteratur zum Befahren des Mississippi.
Gelotet wird folgendermaßen: Das Schiff macht am Ufer fest, gleich oberhalb der seichten Stelle, an der man kreuzen muss; der Lotse, der gerade keine Wache hat, nimmt seinen Lehrling oder Rudergänger und eine ausgesuchte Mannschaft (manchmal auch einen Offizier), fährt mit dem Ewer hinaus – es ei denn das Schiff verfügt über jenen seltenen Luxus eines richtigen Lotbootes – und begibt sich auf die Suche nach dem günstigsten Wasser, während der wachhabende Lotse die Bewegungen mit dem Fernglas verfolgt […]
War man hartnäckig genug und hat inzwischen die Hälfte des Buches geschafft, gibt es einen großen Sprung: Twain hat inzwischen den Lotsenberuf an den Nagel gehangen, war unter anderem in Europa gewesen und kommt nun, in Erinnerungen schwelgend, zurück, um eine Fahrt auf dem Fluss zu unternehmen. Trotz der vergangenen zwanzig Jahre fürchtet er, an seinem Namen erkannt zu werden und bereist, in Begleitung einer kleinen Gesellschaft, welche allerdings nur an zwei Randbemerkungen Erwähnung findet, den Fluss. Das voranschreitende Zeitalter der Eisenbahn hat der Dampfschifffahrt gehörig zugesetzt. Viele Linien fahren nicht mehr. Der Lasten- und Warenstrom nimmt kontinuierlich ab. Passagierschifffahrt findet oftmals in einem nostalgischen Rahmen statt.

Der Autor ergeht sich in Beschreibungen der Städte, welche vorbeiziehen, zitiert Zeitungsartikel der Zeit, präsentiert Wirtschafts- und Demographiedaten, stets vergleichend mit vorherigen Epochen, sodass man einen gelungenen Überblick erhält, wie sich die Zeiten am und vor allem mit dem Fluss geändert haben. Dabei spielt auch der amerikanische Bürgerkrieg eine nicht unerhebliche Rolle. Immer wieder werden auch Gespräche mit Passagieren mitgeteilt, die zwar jeweils eine individuelle Sicht auf die Szenerie haben, sich doch aber alle gleichen.

Mark Twains »Leben auf dem Mississippi« ist ein autobiographisches Werk in zwei Teilen; sein Leben und Werden als Lotse und seine Wiederkehr auf den Fluss. Sieht man über manch zähe Passage hinweg, deren Schwierigkeit der Faszination des Berufes oder dem Land geschuldet ist, so erhält man einen teilweise detailverliebten Einblick in das Leben der Menschen zu jener Zeit an jenem Ort, untermauert, hier und da, von Zeitungsberichten. Tom Sawyer oder Huckleberry Finn sucht man allerdings vergeblich. Die schnöde Sachlichkeit steht konträr zu diesen flussromantischen Erzählungen. Lediglich einmal, als Twain von einer Begebenheit berichtet, spricht er auch diese Werke an und man erkennt, woher der Stoff für seine Werke stammt.
Letztlich zeigt das Buch vor allem eine weitere Facette des Schriftstellers und Journalisten auf, eine, die oft vergessen wird.

Leben auf dem Mississippi

465 Seiten, € 11,95,
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746627038

Rezensiert von Alexander Schau