Hunger

Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist…
Der Hunger ist ihm schon allzu vertraut. Seit Monaten ernährt er sich nur rar von Brot und Wasser, an guten Tagen von Milch. Doch nun sind es schon über drei Tage, an denen er nichts in den Magen bekommen hat und Körper und Geist ihm langsam die Dienste versagen. Der Protagonist in Hamsuns Roman „Hunger“ befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt.
Diese Menschen – leicht und lustig wiegten die ihre hellen Köpfe und schwangen sich durch das Leben wie durch einen Ballsaal! In keinem einzigen Auge war Sorge, keine Bürde auf irgendeiner Schulter, vielleicht nicht ein einziger trüber Gedanke, nicht eine einzige kleine heimliche Pein in einem dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging hier dicht neben diesen Menschen, jung und vor kurzem erschlossen, und ich hatte schon vergessen, wie das Glück aussah.
Er ist ein Schreiberling in seinen besten Jahren, der sich mit dem Verfassen kleinerer Zeitungsartikel über Wasser hält. Doch durch das ständige Hungern fällt es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen und etwas Brauchbares zu produzieren. All seinen Besitz hat er beim Pfandleiher verscherbelt, jeden Bekannten um ein Darlehen gebeten, jede erdenkliche Geldquelle ausgeschöpft. Doch es geht immer weiter abwärts, seine Vermieterin kündigt ihm das Zimmer, seine Haare beginnen wegen der dauerhaften Mangelernährung auszufallen, er beginnt sich für seine moralischen Fehltritte selbst zu hassen und einige Male ist er kurz davor, ohnmächtig auf die Straße zu sinken und widerspruchslos zu sterben.
Lag nun auch noch irgendein Sinn darin, daß absolut alle innigsten und eifrigsten Versuche eines Menschen mißglücke mussten? (...) Nun ging ich hier und hungerte, daß meine Gedärme wie Würmer in mir zusammenkrochen.
Aber jedes Mal wendet sich die Situation zum Guten: ein Bekannter, der Mitleid hat, schenkt ihm Geld; ein Zeitungsredakteur gewährt ihm einen Vorschuss; ihm gelingt tatsächlich ein Artikel, er wird gedruckt und bringt ein bisschen Geld. Die kurzfristigen Hilfen lassen ihn nicht sterben, aber sie reichen auch nicht zum leben. Es gibt Zeiten der absoluten Verzweiflung, in denen der Mann Unrecht begeht. Doch der Hunger verwirrt seinen Geist und selbst in den abgründigsten Momenten bewahrt er eine gewisse Grenze der Sittsamkeit. In seiner seelischen Verwirrung lügt er zum Vergnügen, schikaniert junge Damen, zankt sich mit jedem Wachmann oder betrügt einen Krämer, der ihm versehentlich falsches Wechselgeld herausgegeben hat. Der Tiefpunkt ist erreicht, als er kurz davor ist, sich an einem ihm nahe stehenden Fräulein zu vergehen. Ist die Not aber erst einmal überstanden und der quälende Hunger gestillt, so setzt sofort das Bereuen ein und jede Lüge wird bedauert, jede Schuld schnellstmöglich beglichen, jede Hilfe vergolten und die ihm bei manchen Gelegenheiten entgegengebrachte Freundlichkeit beschämt und rührt ihn zu Tränen.

Die Zerrissenheit zwischen Überleben und ethischem Handeln ist das zentrale Element dieses Romans und Hamsun schafft es auf sehr eindrückliche Weise, die Seelenqualen eines Moralisten darzustellen, der um sein Leben bangt. So schuf er in seinem ersten bedeutsamen und auf autobiographischen Erfahrungen beruhenden Werk eine starke Analyse der menschlichen Seele und der feinen Schwingungen, die einen Verzweifelten in seinem ausgehungerten Körper plagen.

Das Buch macht einem durch seinen banalen Erfahrungsbericht des Hungers auf ernüchternde Art bewusst, was man hat und wie sehr man sich doch darum sorgt. Hamsuns Charakter weiß nicht, wann er das nächste Mal etwas Essbares in den Magen bekommt und scheint sich doch so wenig darum zu kümmern. Die Gleichgültigkeit, mit der er durchs Leben geht, lässt ihn das Leiden und Darben ertragen, macht ihn aber nicht achtlos gegenüber dem Guten, welches ihm widerfährt und lässt ihn nicht zu einem egoistischen Halunken werden, auch wenn der Kummer noch so groß ist.

Die Geschichte über jenen Hungernden zieht einen in ihren Bann und richtet die Aufmerksamkeit auf leicht zu übersehende Details der menschlichen Psyche, die unter besonderen Umständen, besondere, manchmal bizarre Einfälle hat. Es ist ein Werk der Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit, welches jedoch nicht mit dem Finger zeigt, sondern von der erdenden Menschlichkeit des Verzweifelten getragen wird.

Und so verlässt der Held am Ende die Stadt Kristiania, nachdem sie ihn gezeichnet hat.

Rezension von Ulrike König

Hunger

240 Seiten, € 12,00, Taschenbuch
Ullstein, ISBN 978-3548291093
aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel

→ Leseprobe→ kaufen

Hunger

Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist…
Der Hunger ist ihm schon allzu vertraut. Seit Monaten ernährt er sich nur rar von Brot und Wasser, an guten Tagen von Milch. Doch nun sind es schon über drei Tage, an denen er nichts in den Magen bekommen hat und Körper und Geist ihm langsam die Dienste versagen. Der Protagonist in Hamsuns Roman „Hunger“ befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt.
Diese Menschen – leicht und lustig wiegten die ihre hellen Köpfe und schwangen sich durch das Leben wie durch einen Ballsaal! In keinem einzigen Auge war Sorge, keine Bürde auf irgendeiner Schulter, vielleicht nicht ein einziger trüber Gedanke, nicht eine einzige kleine heimliche Pein in einem dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging hier dicht neben diesen Menschen, jung und vor kurzem erschlossen, und ich hatte schon vergessen, wie das Glück aussah.
Er ist ein Schreiberling in seinen besten Jahren, der sich mit dem Verfassen kleinerer Zeitungsartikel über Wasser hält. Doch durch das ständige Hungern fällt es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen und etwas Brauchbares zu produzieren. All seinen Besitz hat er beim Pfandleiher verscherbelt, jeden Bekannten um ein Darlehen gebeten, jede erdenkliche Geldquelle ausgeschöpft. Doch es geht immer weiter abwärts, seine Vermieterin kündigt ihm das Zimmer, seine Haare beginnen wegen der dauerhaften Mangelernährung auszufallen, er beginnt sich für seine moralischen Fehltritte selbst zu hassen und einige Male ist er kurz davor, ohnmächtig auf die Straße zu sinken und widerspruchslos zu sterben.
Lag nun auch noch irgendein Sinn darin, daß absolut alle innigsten und eifrigsten Versuche eines Menschen mißglücke mussten? (...) Nun ging ich hier und hungerte, daß meine Gedärme wie Würmer in mir zusammenkrochen.
Aber jedes Mal wendet sich die Situation zum Guten: ein Bekannter, der Mitleid hat, schenkt ihm Geld; ein Zeitungsredakteur gewährt ihm einen Vorschuss; ihm gelingt tatsächlich ein Artikel, er wird gedruckt und bringt ein bisschen Geld. Die kurzfristigen Hilfen lassen ihn nicht sterben, aber sie reichen auch nicht zum leben. Es gibt Zeiten der absoluten Verzweiflung, in denen der Mann Unrecht begeht. Doch der Hunger verwirrt seinen Geist und selbst in den abgründigsten Momenten bewahrt er eine gewisse Grenze der Sittsamkeit. In seiner seelischen Verwirrung lügt er zum Vergnügen, schikaniert junge Damen, zankt sich mit jedem Wachmann oder betrügt einen Krämer, der ihm versehentlich falsches Wechselgeld herausgegeben hat. Der Tiefpunkt ist erreicht, als er kurz davor ist, sich an einem ihm nahe stehenden Fräulein zu vergehen. Ist die Not aber erst einmal überstanden und der quälende Hunger gestillt, so setzt sofort das Bereuen ein und jede Lüge wird bedauert, jede Schuld schnellstmöglich beglichen, jede Hilfe vergolten und die ihm bei manchen Gelegenheiten entgegengebrachte Freundlichkeit beschämt und rührt ihn zu Tränen.

Die Zerrissenheit zwischen Überleben und ethischem Handeln ist das zentrale Element dieses Romans und Hamsun schafft es auf sehr eindrückliche Weise, die Seelenqualen eines Moralisten darzustellen, der um sein Leben bangt. So schuf er in seinem ersten bedeutsamen und auf autobiographischen Erfahrungen beruhenden Werk eine starke Analyse der menschlichen Seele und der feinen Schwingungen, die einen Verzweifelten in seinem ausgehungerten Körper plagen.

Das Buch macht einem durch seinen banalen Erfahrungsbericht des Hungers auf ernüchternde Art bewusst, was man hat und wie sehr man sich doch darum sorgt. Hamsuns Charakter weiß nicht, wann er das nächste Mal etwas Essbares in den Magen bekommt und scheint sich doch so wenig darum zu kümmern. Die Gleichgültigkeit, mit der er durchs Leben geht, lässt ihn das Leiden und Darben ertragen, macht ihn aber nicht achtlos gegenüber dem Guten, welches ihm widerfährt und lässt ihn nicht zu einem egoistischen Halunken werden, auch wenn der Kummer noch so groß ist.

Die Geschichte über jenen Hungernden zieht einen in ihren Bann und richtet die Aufmerksamkeit auf leicht zu übersehende Details der menschlichen Psyche, die unter besonderen Umständen, besondere, manchmal bizarre Einfälle hat. Es ist ein Werk der Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit, welches jedoch nicht mit dem Finger zeigt, sondern von der erdenden Menschlichkeit des Verzweifelten getragen wird.

Und so verlässt der Held am Ende die Stadt Kristiania, nachdem sie ihn gezeichnet hat.

Rezension von Ulrike König

Hunger

240 Seiten, € 12,00, Taschenbuch
Ullstein, ISBN 978-3548291093
aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel

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Rezensiert von Gast