Hier, wo wir uns begegnen

Auf einer der Parkbänke saß unter einem Schirm sehr still eine alte Frau. Es umgab sie eine Art Stille, die aufmerken ließ. So, wie sie auf der Bank saß, wollte sie, dass man ihre Gegenwart bemerkte.
In diesem Band versammelt John Berger acht und eine halbe Erzählung, die in den meisten Fällen losgelöst voneinander an verschiedenen Orten Europas spielen. Es sind allesamt Orte seiner Erinnerung, die er in mehrfacher Hinsicht zu nutzen weiß. Nämlich als Kulisse und Schauplatz für die Lebenden und auch für die Toten, die er dort wieder zum Leben erweckt. Darunter seine verstorbene Mutter, die ihm in der ersten Erzählung mit dem Titel »Lissabon« begegnet.
Etwas, John, darfst du nicht vergessen, und du vergisst ja so schnell. Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab, das musst du wissen.
Jedoch nutzt er diese Orte der Begegnung mit den Toten und seiner Fantasie nicht zum reinen Selbstzweck des Schreibens, sondern er wird ihnen losgelöst davon mehr als gerecht, indem er den Leser jedes Mal auf eine großartig erzählte (Zeit-)Reise mitnimmt, auf der Orte, Plätze und Menschen, Pflanzen, Tiere oder Geräusche ein bedeutungsvolles Eigenleben erhalten.

Der Satz Als Stadt ist Genf so widersprüchlich und rätselhaft wie ein lebendiger Mensch. ist exemplarisch für Bergers Kunst, Dingen und Orten eine Persönlichkeit zu geben und sie dem Menschen (dem Leser) ähnlich und dadurch erfahrbar, schmeckbar und greifbar zu machen.
Geschmack oder besser: das Schmecken ist bei Berger etwas Essentielles, das er den Toten nicht verwehrt, sondern Ihnen ausdrücklich zugesteht. Bergers Totengespräche sind keine Gruselgeschichten mit geisterhaften Gestalten; nein, Bergers Tote sind doch recht bodenständig. Sie essen, schlafen, trinken und leiden sogar an Krankheiten wie etwa Hoffnungslosigkeit.
Bergers Tote sind Kulinariker, die sich wie seine Mutter oder Ken gerne auf Märkten herumtreiben und mit kritischen Blicken die angebotenen Waren prüfen und auswählen.
Kannst du eine Sauerampfersuppe kochen?, fragt Ken. Dann hätten wir morgen etwas anderes als Borschtsch. … du kochst die Suppe, servierst sie und in jeden Teller legst du ein hartgekochtes Ei ... und die Mischung von dem scharfen sauren Grün des Ampfers und der runden Behaglichkeit des Eis erinnert dich an etwas Besonderes, Entferntes. An zu Hause? Nicht doch, nicht einmal die Polen. An was dann? Vielleicht ans Überleben.
Neben Lissabon führt Berger den Leser nach Genf, wo er auf den Spuren von Borges wandert, nach Krakau, wo er seinen ehemaligen Lehrer Ken trifft, der dort Suppe löffelnd auf einem Marktplatz sitzt. Er reist nach Islington, wo er einen alten Freund aus Zeiten des Studiums besucht. In der Erzählung »Le Pont d’Arc« reisen wir mit ihm zusammen in die wahrhaftig sagenumwobene Höhle von Lascaux und tauchen ein in die Welt der Höhlenmalerei.

Bergers Erzählungen lesen sich streckenweise autobiographisch, was ihren Reiz jedoch nicht mindert. Die Grenzwanderungen zwischen den Welten des Realen und der Fantasie, zwischen dem Reich der Toten und dem des lebendigen John Berger erzeugen ganz im Gegenteil einen zusätzlichen Reiz. Besonders in der letzten, der achten Erzählung »Der Szum und der Ching« wird das Wechselspiel dieser Grenzwanderungen deutlich: Spielerisch reist Berger aus der Gegenwart durch die Betrachtung des Flusses Szum und die Kraft der Erinnerung in die Zeit seiner Kindheit zurück.

An manchen Stellen kann Berger nicht aus seiner Haut und wird politisch, klagt Engstirnigkeit, Rassismus und die Mafiosi des Finanzkapitalismus an. Aber nur kurz, nur um Luft abzulassen, als etwas, das gesagt werden musste. Man merkt, dass dies das Anliegen eines alten Mannes ist. Eine Empörung, die nicht zur Wut oder Raserei wird. Sei es aus einer Art Weisheit des Alters oder einer Art von Resignation heraus: Er spricht über diese Dinge beinahe so beiläufig wie manche Menschen über das Wetter.
Die größte Kritik, die subtilste und zugleich einprägsamste, schleicht sich zwischen den Zeilen ein. Es ist nichts Konkretes, sondern die langsam durchsickernde Erkenntnis, dass Bergers Weltsicht etwas ist, das mir als Leser und gewiss auch unserer Zeit fehlt. Es ist seine Fähigkeit, das Besondere im Alltäglichen zu erkennen; es ist seine Fähigkeit, das Materielle und das Imaginäre miteinander zu verknüpfen. Daraus resultiert, dass Orte, Zeiten, Menschen, eine Sauerampfersuppe, der Gesang einer Nachtschwalbe und viele Dinge mehr das Leben der Lebenden bedeutender, reicher und wohlschmeckender machen. Das ist etwas - man könnte es auch als Sinn bezeichnen -, das der heutigen Großwetterlage des Materialismus mit all seinen aufs Individuelle verblödeten Individuen und ihren subkutan eingeimpften Imperativen (höher!, schneller!) fehlt.

Es ist großartig, Berger zu lesen. Wegen seiner poetischen Sprache, die niemals ins Klischeehafte rutscht. Seiner Kunst des Sehens, die einem die Augen öffnet und die ein Gefühl der Dankbarkeit für das Leben zurück lässt. Eine wunderbare Entdeckung!

Hier, wo wir uns begegnen

224 Seiten, € 9,95, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3596178766
aus dem Englischen von Hans J. Balmes

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Rezensiert von Matthias Hey