Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich
Heute ist Samstag, der 18. März, und ich sitze im überfüllten Coffeeshop auf dem Flughafen von Fort Lauderdale und versuche, die vier Stunden Wartezeit zwischen dem Auschecken auf dem Kreuzfahrtschiff und meinem Rückflug nach Chicago totzuschlagen, indem ich all das, was ich im Rahmen der soeben abgeschlossenen Reportage gesehen, gehört und getan habe, noch einmal und in hypnotischer Versenkung Revue passieren lasse.Manch einer würde sich sicher darüber freuen, eine Kreuzfahrt for free antreten zu dürfen: Eine Woche Karibik auf einem Luxusliner, jeden Tag ein frischer Obstkorb auf dem Zimmer, abendliche Dinners, Sonnenbaden an Deck – und das alles auf Kosten anderer.
David Foster Wallace hingegen ist einer von denjenigen, für die Spaß und Erholung ein wenig anders aussehen. Für ihn hat diese Kreuzfahrt nichts mit Urlaub zu tun, er soll als Journalist für eine amerikanische Zeitung ein wie auch immer geartetes „Feature“ über seine Erfahrungen an Bord schreiben. Und das tut er.
Alles, was ich habe, ist eine Theorie, wonach jedem Passagier eine Art Bewacher zugeteilt ist, der ihn keinen Schritt aus den Augen lässt und unter Einsatz geheimdienstlicher Methoden das Stewarthauptquartier ständig über alle Bewegungen, Aktivitäten und nicht zuletzt über die voraussichtliche Rückkehrzeit informiert.Kaum ein Punkt, der seinem scharfen Auge entgeht, kaum ein unbeobachtetes Detail, und kaum eine Winzigkeit, die nicht seziert würde: Wieso sind die Handtücher in der Kabine so verdammt flauschig? Wie oft am Tag kann man überhaupt Ziel des berüchtigten Servicelächelns werden? Wie behauptet man sich beim Tontaubenschießen unter lauter ehemaligen Kriegsveteranen? Wie viele dieser kleinen Minzschokoladentäfelchen kann man unbemerkt zurück an Land schmuggeln? Und woher weiß der Kabinenstewart eigentlich, wann er lange genug sein Zimmer verlassen wird, um in der Zwischenzeit das Bett machen zu können?
Während seines Aufenthalts an Bord schaut er dem Luxusschiff ganz tief in sein Innerstes - zumindest bildlich gesehen, denn praktisch lässt man ihn nicht; der griechische Kapitän hält ihn für einen investigativen Journalisten und verwehrt ihm den Zugang zu allen internen Bereichen. Dabei kommt er so einigen Servicetricks auf die Schliche und merkt schnell, dass nicht alles so glanzvoll ist, wie es zu sein scheint.
Die Waden dürften der einzige Körperteil sein, an dem man sich bei alten Männern mehr Haare wünscht.All das hätte genug Material für eine herrlich bissige und zynische Generalabrechnung werden können, hätte der Autor sich selbst ein wenig zurückgenommen und einfach nur beobachtet. Größtenteils sind seine Ausführungen zwar herrlich absurd und zum Brüllen komisch, brilliant be- und vor allem geschrieben, doch drängt er sich leider auch viel zu oft (und wahrscheinlich gar nicht beabsichtigt) selbst in den Vordergrund. Wenn man zu einem Abenddinner in festlicher Garderobe ein T-Shirt mit Krawattenaufdruck trägt, muss man sich eben über die Reaktionen der übrigen Gäste nicht wundern. Und wer den Küchenjungen um einen Eimer Bratenfett bittet mit der Erklärung, er wolle damit Haie anlocken, muss folgerichtig auch damit rechnen, dass man ihn für verrückt erklärt und für den Rest der Kreuzfahrt nicht mehr ernst nimmt.
Ein bisschen Systemkritik, ein bisschen Selbstmitleid und ganz viel Spaß; insgesamt ist diese Abrechnung mit dem amerikanischen Urlaubsmassentourismus sicherlich nicht die Neuerfindung des Rades, dafür aber trotzdem eine runde Sache und vor allen Dingen herrlich kurzweilig und treffsicher formuliert.
Seekrankheit: Wer sie hat und wer nicht, und wer sie zwar gehabt hat, aber jetzt darüber hinweg ist oder zumindest beschwerdefrei, aber ihre Wiederkehr befürchtet.
Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich
192 Seiten, € 6,95,
Goldmann, ISBN 978-3442542291
aus dem Englischen von Marcus Ingendaay
→ Leseprobe
Goldmann, ISBN 978-3442542291
aus dem Englischen von Marcus Ingendaay
→ Leseprobe
Rezensiert von Alexander Schau
Alex lebt schon eine Weile nicht mehr in Leipzig, liebt aber immer noch Ebooks und liest eigenen Angaben zufolge durchschnittlich 6,73 Bücher pro Monat. Paulo Coelho findet er immer noch widerlich, daran hat auch der Umzug nichts geändert.