Emmaus

Der rote Spider wendete und näherte sich dem Jungen. Der Mann am Steuer fuhr gemächlich, er schien keine Eile zu haben, keine bestimmten Absichten.
Emmaus war ein Ort in der Nähe Jerusalems, der im Neuen Testament Erwähnung findet: Dem Lukasevangelium nach sollen Kleopas und ein weiterer Jünger auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus dem auferstandenen Jesus begegnet sein, ohne ihn aber gleich zu erkennen. Als sie in Emmaus angekommen waren und Jesus beim Abendmahl das Brot brach, erkannten sie den Messias und eilten sofort nach Jerusalem, um den übrigen Aposteln und Jüngern von der Wiederkehr Jesus’ zu berichten.
Aber in der Liebe gibt es kein Maß, sagte Luca auf eine Weise, dass er nicht er selbst zu sein schien. In der Liebe und im Leiden, fügte er hinzu.
Natürlich – schon der Name des Romans legt es ja nahe – geht es um Religion. Im Turin der 1970er führen Luca, Bobby, Santo und der namenlose Erzähler ein einfaches und vorbildlich katholisches Leben. Sie gehen regelmäßig in die Kirche und engagieren sich für ihre Mitmenschen, wenn sie im Krankenhaus Schwerkranke waschen. Sie sind mit ihrem Glauben an Gott zusammen aufgewachsen, und sie haben nie Grund gehabt, an diesem Glauben zu zweifeln und ihn in Frage zu stellen. Ihr Glaube gehört für sie wie selbstverständlich zum Leben und auch zum Erwachsenwerden dazu.
Nach und nach machen die vier Jungen die Bekanntschaft der schönen und ein wenig älteren Andre. Dieses Mädchen ist Sünde und Versuchung, und vor allem ist sie ohne Glauben, was für die Jungen in ihrer vordefinierten kleinen Welt eine ganz neue Erfahrung bedeutet und einige Veränderungen nach sich zieht. „Emmaus“ ist kein Roman, den man liest und danach zur Seite legt, um ein neues Buch zu beginnen. Und auch wenn man nicht bibelfest ist oder vielleicht auch gar nicht glaubt, erzählt „Emmaus“ eine Geschichte, die auf Grund ihrer Absolutheit jeden interessieren müsste.
Doch wir sind auch unerschütterlich und haben eine Kraft, die nicht zu unserem Alter passt.
Dabei geht es überraschenderweise viel weniger um Glauben, als man anfangs denkt, und genau das ist einer der Gründe dafür, dass diese Geschichte so großartig und überzeugend ist. Ganz anders als z. B. der hoffnungslos überfeierte Glückskeksschreiberling Paulo Coelho instrumentalisiert Alessandro Baricco seine Protagonisten nicht unter einem sentimentalen Worthülsenschleier für seine persönliche Weltanschauung. Baricco zeigt eine Handvoll Menschen, die ganz langsam ihren Glauben verlieren oder ihn zumindest in Frage zu stellen beginnen. Es geht um die Hinterfragung funktionierender Wertesysteme, und es geht vor allem auch um Selbstzweifel und um Freundschaft.
Wie konnten wir nur so lange nichts wissen, nichts von dem, was war, und uns trotzdem an den Tisch aller Dinge und Menschen setzen, die uns auf unserem Weg begegneten? Unsere kleinen Herzen – wir nähren sie mit großen Illusionen, und am Ende gehen wir wie Jünger nach Emmaus, blind, an der Seite von Freunden und Lieben, die wir nicht erkennen, und auf einen Gott vertrauend, der nichts mehr von sich selbst weiß.
Alessandro Baricco ist ein Meister des poetischen Erzählens, und das merkt man auch bei „Emmaus“ wieder auf jeder Seite. Seine Sätze sind eigene kleine Kunstwerke, die so voll Feingefühl und Intimität stecken, dass es einem beim Lesen beinahe die Brust zusammenzieht. In diesen Sätzen steckt so viel Offenherzigkeit und Wahrheit, so viel kindliche und unbefangene Ehrlichkeit wie lange in keinem anderen Buch mehr.

Der neueste Roman des Italieners unterscheidet sich für mich auffallend von seinen früheren Büchern: „Seide“ oder auch „Land aus Glas“ sind hochpoetische Grenzgänge zwischen Realität und Fiktion, die man besten Gewissens auch als „Märchen“ bezeichnen könnte. „Emmaus“ ist auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise anders.
So verrückt das auch ist, es gibt eine einzige Finsternis für alle.

Emmaus

144 Seiten, € 15,90, gebunden
Hanser, ISBN 978-3446238244
aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

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Rezensiert von Alexander Schau